11.05.2015

Mit Rosenkranz und Regenschirm

Von Marie-Christine Andres Schürch

Die Wallfahrt von Hornussen über gut 80 Kilometer zu Fuss nach Todtmoos und zurück erfreut sich noch immer grosser Beliebtheit. Am Montag, 18. Mai 2015 ist es wieder so weit. Pilgerleiter Karl Herzog erwartet erneut gegen 200 Teilnehmende.

Karl Herzog hievt ein Buch auf den Tisch. Aussen massive Metallbeschläge, innen virtuose Schrift auf zähem Pergament. Das Buch ist fünfhundert Jahre alt, und enthält die erste Erwähnung der Wallfahrt von Hornussen nach Todtmoos. Blass gewordene Buchstaben, hingemalt im Jahr 1600.

Verwurzelt
«1600 ist man von uhraltem mit creutz und fahnen in das totmoos gegangen.», lautet der Eintrag im Jahrzeitenbuch, das im Hornusser Pfarramt lagert. Dieser Satz, vor allem der Ausdruck «von uhraltem» deute darauf hin, dass die Tradition der Fricktaler Wallfahrt nach Todtmoos ihren Ursprung geraume Zeit vor dem Jahr 1600 habe, erklärt Karl Herzog. Der 64-Jährige ist in Hornussen daheim. Er hat fast sein ganzes bisheriges Leben hier verbracht, leistete in Feuerwehr, Schulpflege und in der Dorfmusik viele Stunden Arbeit, erlebte Kameradschaft und pflegt Kontakte im Dorf, aber auch im weiteren Fricktal. Seit vierzehn Jahren amtet Karl Herzog als Pilgerleiter der traditionellen Hornusser Wallfahrt, die jeweils am Montag vor Pfingsten stattfindet und in den Marien-Wallfahrtsort Todtmoos im deutschen Schwarzwald führt. Am kommenden Montag nimmt er die 40 Kilometer lange Strecke bereits zum vierzigsten Mal unter die Füsse.

Vom Grossvater zum Enkel
Wenn Karl Herzog erzählt, wird deutlich bewusst, auf welche Art Traditionen wirksam weitergegeben werden. Sein Grossvater war es, der den damaligen Viertklässer zum ersten Mal auf die Wallfahrt mitgenommen hatte. Der Grossvater war es auch, der dem Jungen unzählige Geschichten mit auf den Lebensweg gab. Er schilderte ihm die Geschicke des Fricktals, die Familiengeschichte und vererbte seinem Enkel die Faszination für die Hornusser Wallfahrt, deren Geschichte sich über mehr als fünf Jahrhunderte erstreckt, und deren Ablauf sich über die Jahre kaum verändert hat.

32 Rosenkränze auf 40 Kilometern
Nach der Pilgermesse und kurzem Frühstück treffen sich die Teilnehmer oberhalb des Dorfs Hornussen. Der Pilgerleiter Karl Herzog begrüsst die Pilger, dann bricht die Gruppe auf zu einem zehnstündigen Fussmarsch, der sie über Laufenburg, Hänner und Segeten ins Dörfchen Todtmoos führt. Die Mehrheit der Pilger stösst in Laufenburg auf deutscher Seite zum Pilgerzug. In den letzten Jahren waren jeweils rund 200 Teilnehmer dabei. Als Pilgerleiter nimmt Karl Herzog die Anmeldungen entgegen, organisiert Unterkunft und Verpflegung und leitet die Wallfahrt. Seine «Werkzeuge», wie er sie salopp nennt, kann er in einer Hand tragen: Rosenkranz, Regenschirm und Marschtabelle. Letztere ist sorgfältig laminiert und passt in die Brusttasche. Die Tabelle ist aber eher Gedankenstütze, denn die Durchgangszeiten bei den bekannten Wegpunkten unterscheiden sich von Jahr zu Jahr kaum. «Ich staune immer wieder über die Disziplin der Leute», erzählt Karl Herzog, «alle halten das Tempo, jeder ist nach einer Pause rechtzeitig wieder abmarschbereit.» Disziplin sei aber auch nötig, damit die bis 150 Meter lange Zweierkolonne unfallfrei und ohne Verspätungen die zweitägige, insgesamt 80 Kilometer lange Strecke bewältigen könne. Die seit eh und je bewährten «Ämtli» gewährleisten den reibungslosen Ablauf. Zuvorderst gehen ein alter und ein junger Pilger nebeneinander, die Mischung ergibt das richtige Marschtempo. Auf der gesamten Strecke betet die Gruppe 32 Rosenkränze. Vorbeter marschieren verteilt im Mittelgang zwischen der Zweierkolonne und sorgen dafür, dass die Gebete synchron erklingen. Das Gehen im Gebet bewirke einen besonderen Zustand, schildert Karl Herzog: «Wenn man betet, wird man nicht müde, weil das Beten die Gedanken an die schlappen Beine verdrängt.» Auch die Strecke bekommt durch das Beten eine neue Struktur, so dass sich der Pilgerleiter die Distanzen nicht in Stunden, sondern in Rosenkränzen merkt: «Von der Kapelle Kaisten bis hinauf nach Ittenthal sind es drei Rosenkränze. Haben wir eineinhalb gebetet, weiss ich, dass wir in der Hälfte sind.» Neben dem Gebetsmarsch gibt es auch Abschnitte im Schweige- oder Freimarsch. Wenn sich die Marschformation für den Freimarsch auflöst, wird deutlich, dass die Wallfahrt zwar ein frommes und ernstes Anliegen ist, dass aber Geselligkeit und Austausch genauso dazugehören.

Zahnbürsteli und ein paar frische Socken
In neuerer Zeit kam die Verkehrsgruppe dazu, die dafür sorgt, dass der Pilgerzug auf den teilweise stark befahrenen Strassen unfallfrei voran kommt. Das Verkehrsaufkommen und der Strassenbelag hätten sich denn auch am meisten verändert, seit er als Kind an der Wallfahrt dabei gewesen sei, findet Karl Herzog. Aber auch die Ausrüstung der Pilger sei heute ganz anders als noch vor fünfzig Jahren: «Ich erinnere mich, dass mein Grossvater lediglich sein Zahnbürsteli und ein paar frische Socken in der Innentasche seiner Jacke mitnahm. Geschlafen hat er gleich in den Wanderkleidern.», erinnert sich Karl Herzog. Aus unzähligen Episoden und Anekdoten bestehen die Wallfahrts-Erinnerungen von Karl Herzog. Dass er voller Geschichten steckt, verdankt er neben seinem Grossvater zu einem guten Teil seiner Leselust, die er schon als kleiner Junge verspürte: «Wenn mich die Eltern jeweils suchten, fanden sie mich meist lesend in einer Ecke.», erzählt er. Noch heute liest Karl Herzog mit grossem Vergnügen, vor allem Historisches.

Lediglich durch Kriege unterbrochen
Der Wallfahrtsort Todtmoos liegt auf rund 850 Metern über Meer. Bis ins 13. Jahrhundert hinein war der Ort nicht besiedelt, sondern galt – daher der Name – als einsames, totes Moos. Im Jahr 1255 erschien dort dem Priester Theoderich mehrmals die Gottesmutter Maria, die ihm den Auftrag gab, eine Kapelle zu errichten. Der junge Wallfahrtsort entwickelte sich rasch und in der Zeit der Pestepidemien im 15. Jahrhundert wurde Todtmoos zum wichtigsten Wallfahrtsziel des Südschwarzwaldes. Die Hornusser Wallfahrt gehört zu den Fusswallfahrten, die sich bis heute erhalten haben. Bis 1803 gehörte das Fricktal zum habsburgischen Vorderösterreich, so dass die Wallfahrt noch nicht grenzüberschreitend war. Obwohl sich die österreichische Regierung und später die Aargauischen Behörden bemühten, die Wallfahrten abzuschaffen, liessen sich die Hornusser nicht von ihrem Pilgergang abbringen. Einzig die beiden Weltkriege haben die Tradition für eine Weile unterbrochen. Die Abschaffungsbemühungen der Behörden und das hartnäckige Festhalten der Hornusser an diesem Brauch, haben eine besondere Art der Wallfahrt entstehen lassen, wie der emeritierte Volkskunde-Professer Paul Hugger in seinem Werk «Die Wallfahrt von Hornussen nach Todtmoos» beschreibt. Er hebt die Besonderheit hervor, dass keine kirchlichen Amtsträger an der Organisation der Wallfahrt beteiligt sind: «Tonangebend sind die Laien, vor allem der Pilgerführer und seine Mitarbeiter, sie tragen die Verantwortung und wollen sie auch tragen. Vor wenigen Jahrzehnten zog noch kein Geistlicher mit. Und am Wallfahrtsort selbst amtierten Priester, die nicht mit dem heimischen Klerus identisch waren, z. B. Kapuziner. Ohne Zweifel geht diese Regelung auf die Zeit zurück, wo die Obrigkeit, zuletzt die aargauische, das Wallfahrtswesen bekämpfte und es den Dorfpfarrern bei Strafe untersagte, irgendwelchen Vorschub zu leisten.»

Glocken heissen die Pilger willkommen
Auch dieses Jahr werden die Glocken läuten in Todtmoos, wenn sich der Pilgerzug aus der Schweiz dem Dörfchen nähert. Ein ganz besonders emotionaler Moment für die Pilger und auch für den Pilgerleiter: «Manchem kommen die Tränen. Es ist wie ein Nachhausekommen.»

Fusswallfahrt nach Todtmoos
Montag, 18. bis Dienstag, 19. Juni 2015. Die Wallfahrt startet mit der Pilgermesse am Mo, 18.5. um 5 Uhr in der Kirche Hornussen. Abmarsch: 6.15 Uhr bei der Rainhalde oberhalb Hornussen. Zweite Startmöglichkeit: 08.30 Uhr beim Parkplatz Waldfriedhof in Laufenburg (D). Kurzentschlossene erhalten weitere Auskunft beim Pilgerleiter Karl Herzog. T 062 871 37 49, pilgerl.todtmoos@bluewin.ch.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.