28.06.2021

Grosses Sommerinterview von forumKirche über «Gendergerechte Sprache»
Mitgemeint oder doch aussen vor?

Von Sarah Stutte und Detlef Kissner

  • Das grosse Sommerinterview von forumKirche, dem Pfarreiblatt der Bistumskantone Schaffhausen und Thurgau, dreht sich um ein umstrittenes Thema: «Gendergerechte Sprache».
  • forumKirche hat mit drei Fachleuten auf diesem Gebiet eine Diskussion geführt, die erwartungsgemäss keine Lösung, dafür aber viele Denkanstösse liefert.
  • Horizonte darf das Sommerinterview von forumKirche hier und in seiner Printausgabe auch den Lesern des Aargauer Pfarrblatts zur Ansicht bringen.


Kann eine neue Form des Schreibens und Sprechens, die sogenannte gendergerechte Sprache, dafür sorgen, dass endlich alle Menschen, egal welchen Geschlechts, sich gegenseitig gleich behandeln? Dieser Frage stellten sich im Sommerinterview des Pfarreiblatts der Bistumskantone Schaffhausen und Thurgau, forumKirche, drei Leute, die dazu eine klare Meinung haben. Zoe Waltenspül (24) aus Gachnang studiert Multimedia Production in Chur und schreibt gerade an ihrer Bachelorarbeit über gendergerechte Sprache. Lukas Schallmeiner (28) aus Berg ist Kolumnist bei forumKirche und hat Deutsche Literatur an der Universität Konstanz studiert. Christian Breitschmid (55) aus Merenschwand ist Redaktor bei Horizonte, selbständiger Kommunikationsberater/Medientrainer sowie lizenzierter Germanist, Musikwissenschaftler, Kirchen- und Religionshistoriker. Das Gespräch fand in der Kartause Ittingen statt. Alle Fragen und Photos stammen von Sarah Stutte und Detlef Kissner von forumKirche.

Ein kurzes Statement: Wie stehen Sie zum Thema Gendergerechte Sprache?
Waltenspül: Ein wichtiger Schritt für die Gleichberechtigung von Frau und Mann.
Schallmeiner: Sehr wichtig für die Entstereotypisierung der Geschlechter, die Auflösung von allzu binären Konstrukten, die zu Ausgrenzung führen und dem Gefühl, sich auf eine bestimmte Art verhalten zu müssen.
Breitschmid: Gendergerechte Sprache ist so wichtig wie ein Kropf.

Was spricht am meisten für eine gendergerechte Sprache, was dagegen?
Schallmeiner: Dafür spricht, dass sich Frauen und Personen, die sich nicht binär festlegen möchten oder können, integriert und angesprochen fühlen und dadurch mehr an der Gesellschaft teilhaben. Die gendergerechte Sprache ermöglicht auch den Abbau von Stereotypen. Wenn man «Arzt» oder «Wissenschaftler» sagt, denkt man tendenziell eher an einen Mann. Das führt in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens dazu, dass sich Frauen nicht zugehörig fühlen.
Waltenspül: Da stimme ich zu. Ich persönlich finde es wichtig, dass man den Stereotyp eines männlichen Doktors ausmerzen kann, dass man sich einer Ärztin auch bewusst ist und sie als solche bezeichnet. Eine explizite Benennung hilft dabei, die Vorurteile in den Berufen abzubauen.
Breitschmid: Es gibt eine einfache Überlegung, sowohl ästhetisch als auch sprachhistorisch: Die gendergerechte Sprache ist ein erfundenes Konstrukt, das nicht nötig ist. Unsere Sprache hat alles, was sie braucht, um sich damit gezielt auszudrücken.

Sprache hat sich aber immer verändert…
Breitschmid: Das stimmt. Sprache verändert sich tatsächlich immer. Ein natürliches Geschehen, das sich von alleine entwickelt, dafür ist kein Diktat nötig. Wenn es etwas Demokratisches gibt auf dieser Welt, dann ist es die Sprache. Sie wird nämlich wirklich von der Mehrheit geformt.
Schallmeiner: Die Demokratisierung der Sprache sehe ich ein wenig kritischer. Mit dem generischen Maskulinum wurden erst ab Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts Frauen auch mitgemeint, weil sie wählen durften und mehr Rechte in der Gesellschaft erhielten. Das zeigt, dass Sprache nicht so gerecht und demokratisch ist, wie wir vielleicht annehmen, und deshalb auch einer gewissen Nachhilfe bedarf.

Zoe Waltenspül studiert Multimedia Production und schreibt ihre Abschlussarbeit über gendergerechte Sprache. | Foto: forumKirche
Das generische Maskulinum stiess aber nicht überall auf Zustimmung. Verschiedene Studien belegten schon in den 70er-Jahren, dass dadurch eher Bilder von Männern im Kopf erzeugt werden. Warum löst die Diskussion um eine geschlechtergerechtere Sprache immer noch eine solche Gegenwehr aus?
Breitschmid: Weil man nichts erzwingen kann, was sich normalerweise über Generationen hinweg entwickelt. Doppelpunkte, Sternchen, Unterstriche und so weiter entstellen die Sprache und führen sicher nicht dazu, dass sich alle Menschen auf Augenhöhe begegnen. Die ganze Gleichberechtigungsbewegung hinkt in vielen Bereichen unseres Lebens immer noch hinterher.
Waltenspül: Genau deshalb finde ich es wichtig, dass man einen Schritt in Richtung Gleichberechtigung geht, indem man gendergerechte Sprache benutzt und dafür sensibilisiert. Ich habe auch erst mit der Zeit gemerkt, dass mich das Wort «Teilnehmer» stört, weil ich eine Frau bin und kein Teilnehmer. Das hat mich achtsamer gemacht und jetzt fallen mir immer mehr solcher Wörter auf.
Schallmeiner: Das spiegelt sehr gut wider, wie rigide unser kulturelles System gedacht wird. Veränderungen wären viel schneller umsetzbar, wenn nicht ständig dieses Gefühl von «es muss so sein, weil es schon die letzten 40 Jahre so war und weiterhin so funktionieren wird» mitschwingen würde. Die Schweiz ist ein wenig traditioneller und konservativer, was gewisse Vorteile hat, aber in punkto Frauenrechte finde ich das eher nachteilig. Wie wir uns in unserer Gesellschaft unterhalten, zeigt auch, wie unsere Gesellschaft ist und umgekehrt.

Wer darf oder soll Sprache verändern? Eine Expert*innengruppe oder jede*r für sich?
Schallmeiner: Die Entwicklung darf von oben angestossen werden, muss aber letztlich von innen kommen. Jede*r muss selbst herausfinden, was sinnvoll oder vielleicht auch nicht sinnvoll ist.
Breitschmid: Doch genau das lassen aktive «Genderer» nicht zu. Sie übernehmen das Denken. Ich habe das in den 80er-Jahren während meines Studiums miterlebt, als die feministische Linguistik propagiert wurde. Ich fand das spannend, dachte aber schon damals: Das lässt sich nicht durchsetzen. Für den Denkanstoss aber, ob wir wirklich gleichberechtigt sind, bin ich dieser Bewegung heute noch dankbar.
Waltenspül: Ich finde auch, dass die Veränderung bei der Person selbst anfangen muss. Vorschriften bringen da wenig. Ich finde es aber gut, dass der Bund beispielsweise Leitfäden zur geschlechtergerechten Sprache herausgibt, die der Orientierung dienen.

Ist der Genderstern die richtige Lösung oder gibt es andere Formen, auf die man sich einigen könnte? Welche?
Schallmeiner: Persönlich finde ich den Doppelpunkt schön, weil er das Schriftbild nicht so stark stört. Das ist aber eine rein ästhetische Überlegung. Der Stern ist gut, weil er auffällt, man mehr angehalten wird, ihn mitzulesen und sich dann Gedanken macht, was dort tatsächlich steht.
Waltenspül: Es gibt keine richtige Lösung. Wichtig ist, dass man sich beim Schreiben an etwas hält und nicht fünf verschiedene Formen braucht. Am besten ist es, wenn gar nichts Zusätzliches notwendig ist, sondern das Wort komplett umgeändert wird, zum Beispiel in substantivierte Adjektive oder Partizipien, wie bei «Studierende», wenn man alle Geschlechter meint.

Lukas Schallmeiner ist der Meinung, dass Sprache sich nicht immer von alleine verändert und deswegen einen Anstoss bekommen darf. | Foto: forumKirche
Wie kann in Texten eine gute Balance zwischen Lesbarkeit und dem Anspruch einer gendergerechten Sprache geschaffen werden?
Breitschmid: Das ist absolut unmöglich. Versuchen kann man jedoch, dort, wo es vom Sprachrhythmus und -klang her möglich ist, mit Varianten von Frauen- und Männernennungen zu spielen. Wenn ich zum Beispiel über Lehrerinnen und Lehrer berichte, schreibe ich, je nach Textfluss, eben von Lehrpersonen. Aber alles andere kommt bei mir nicht infrage. Bei mir bestimmen Textklang und Inhalt die Form.
Waltenspül: Die Art des Texts spielt eine wichtige Rolle. Manchmal leidet die Lesbarkeit, wenn beispielsweise Zeitungsberichte gendergerecht geschrieben sind. Dann ist es gut, wenn man sich vorher überlegt, ob jetzt wirklich nur Männer gemeint sind und so formuliert, dass man vielleicht darum herumkommt, Sternchen oder Doppelpunkt zu benutzen.
Breitschmid: Ganz wichtig ist das Bewusstsein dahinter. Für mich ist ganz klar, dass die Pluralform immer alle Geschlechter beinhaltet. Wenn es darum geht, für Gerechtigkeit oder für einen Gleichstand zu sorgen, muss man sich gezielt dafür einsetzen, zum Beispiel indem man offen über seinen Lohn spricht, damit klar wird, wo Frauen bewusst benachteiligt werden. Gendergerechtigkeit muss praktisch passieren. Hinter Stern und Doppelpunkt können sich viele verstecken.
Waltenspül: Für mich ist die maskuline Mehrzahl nicht so eindeutig. Damit fühle ich mich nicht angesprochen. Es kommt immer auf die Rezeption an, wie die Leser*innen den Bericht interpretieren und an wen er sich genau richtet. Man sollte von diesem Punkt aus überlegen, was und wie viel man in Sachen Gendergerechtigkeit unternimmt.
Schallmeiner: Es gibt Studien, die zeigen, dass die Lesbarkeit durch den Stern scheinbar nicht beeinträchtigt wird und die Sprache sogar präziser zu sein scheint. Ich bin der Meinung, dass man eine gute Balance finden sollte. Man sollte dem Text ansehen, dass sich jemand Gedanken darüber macht, wie er*sie Sprache verwendet und dass er*sie zumindest versucht, alle miteinzuschliessen.

forumKirche verwendet seit Anfang dieses Jahres den Genderstern. Ist das aus Ihrer Sicht eine Bevormundung der Leser*innen?
Waltenspül: Meiner Meinung nach nicht. Den Leser*innen wird ja nicht vorgeschrieben, dass sie auch so schreiben müssen.
Breitschmid: Das kann auch für Wut und Unverständnis sorgen, und ob sich die Redaktion damit einen Gefallen tut, ist fraglich.
Schallmeiner: Ich persönlich finde das gut und bin ein grosser Freund davon. Natürlich muss sich eine Redaktion vorher immer überlegen, ob sie es sich leisten kann, gewisse Leser*innen zu verlieren, also ob der ideologische Wert dies rechtfertigt.

Was ist für Sie persönlich zu viel des Guten? Wo hört das Gendern sprachlich gesehen auf?
Waltenspül: Wenn sich Menschen während dem Sprechen korrigieren und immer die volle Paarform benutzen. Für mich ist gendern vor allem im Schriftverkehr wichtig und weniger in einem Gespräch.
Schallmeiner: Ich glaube nicht, dass es zu viel des Guten gibt. Man muss keine Mördergrube aus der eigenen Seele machen, wenn man einmal nicht gendert, aber ich sehe keine Gründe für Grenzen.
Breitschmid: Die Grenze ist durch die Sprache gegeben, dort, wo für mich die Sprache in ihrer Schönheit und in ihrer Integrität verletzt wird.

Führen beispielsweise bestimmte Bezeichnungen nicht auch dazu, dass sich die Menschen, die Inklusion suchen, selbst ausschliessen und dadurch das Schubladendenken nur noch gefördert wird?
Breitschmid: Das ist so. Ich habe die Kolumne einer jungen Volontärin des Bayerischen Rundfunks zum Thema Gendern im Mittagsmagazin gesehen. Sie erzählt darin, warum sie dagegen ist und dass sich gewisse Menschen damit in einer Art Blase abkapseln würden. Indem also jemand laut und deutlich gendert, grenzt er oder sie sich von denjenigen ab, die das nicht tun und fühlt sich vielleicht dadurch auch als etwas Besseres.
Schallmeiner: Gewisse Bezeichnungen helfen, die eigene Identität zu finden. Sich über den eigenen Platz in der Gesellschaft bewusst zu sein, generiert mehr Möglichkeiten, Anschluss zu finden. Fühlt sich ein Mensch hingegen selbst nicht repräsentiert, wird es schwierig für ihn nach aussen hin auch selbstbewusst sagen zu können: «Das ist mein Bereich und auf diese Art und Weise würde ich gerne mit dir interagieren.» Ich hoffe nach wie vor, dass Menschen genug selbstreflektiert sind, um sich nicht in eine Box hineinzudenken und dann dort zu verharren, sondern, indem sie erkennen, wer sie sind, umso mehr Lust haben, an dieser Welt teilzunehmen.

Horizonteredaktor Christian Breitschmid bezweifelt den Nutzen einer gendergerechten Sprache für die Gleichberechtigung. | Foto: forumKirche
Was kann das Gendern positiv bewirken, und können sich damit das Denken und die Wirklichkeit verändern?
Waltenspül: Ja. Ich finde es schön, dass wir in der deutschen Sprache weibliche und männliche Bezeichnungen haben, die man nutzen sollte. In vielen anderen Sprachen gibt es das nicht. Frauen sollten explizit genannt werden, wenn sie mitgemeint und gemeint sind, was im besten Fall dazu beiträgt, dass es künftig mehr Frauen in Führungspositionen gibt, weil sie sich mehr zutrauen.
Schallmeiner: An starren Bildern im Kopf kann dadurch gerüttelt werden. Das kommt ja nicht nur den Frauen zugute, sondern auch den Männern. Denn es gibt Konstrukte, die Männern das Gefühl geben, sie müssen sich in einer gewissen Art und Weise in der Gesellschaft verhalten, was ebenfalls nicht gesund ist. Gendern schafft Inklusion. Dadurch fühlen sich auch diejenigen angesprochen, die sich nicht sicher sind, wo sie auf der Skala von Mann bis Frau stehen. Doch auch ich gebe zu: das Reden alleine nützt nichts, wenn die Handlung nicht mitspielt, aber das Reden nützt schon viel.
Breitschmid: Genau. Es geht um die Kommunikation und die muss funktionieren, dann finden auch Handlungen statt. Man sollte beispielsweise in einem Gespräch ganz bewusst Dinge so formulieren, dass sie beim Gegenüber richtig ankommen und etwas auslösen können. Das fängt an bei positiven, bejahenden Formulierungen anstelle des ewigen «nein», «nicht» und «aber».

Stichwort Kommunikation. Welche Einsichten haben Sie durch dieses Gespräch gewonnen?
Schallmeiner: Ich finde es immer wieder erfrischend, eine andere Perspektive auf ein bestimmtes Thema zu bekommen. Gerade auch deshalb, weil ich selbst zwischendurch befürchte, mich in dieser schon angesprochenen Blase zu befinden und zu wenig Kritik von aussen zuzulassen. Sobald man diesen Input von sich selber abtrennt, macht man sich angreifbar und ist nicht mehr seriös in dem, was man denkt und sagt.
Waltenspül: Auch wenn man eine Meinung hat, muss man sich immer bewusst sein, dass es noch eine andere Seite gibt. Deshalb ist es sinnvoll, sich dann und wann in den Austausch zu begeben, gerade mit Menschen, die einem vielleicht nicht zustimmen.
Breitschmid: Für mich geht es einerseits um eine Haltung und andererseits um Sprache, und da gibt es kein Entweder-oder, man muss sich entscheiden. Dass sich alle Geschlechter auf Augenhöhe austauschen können, das muss man erreichen. Nicht, indem man die Sprache gewaltsam verändert, sondern indem man sie richtig gebraucht. Ich fand es spannend, was du, Zoe, über das Wort «Teilnehmer» gesagt hast, und ich glaube, wenn einem jungen Menschen heute so etwas auffällt, dann hat sich schon etwas bewegt.

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