11.06.2020

Nach dem Lockdown in der Beiz: «Der Znüni ist tot»

Von Andreas C. Müller

  • Der Präsident von gastroaargau (Verband für Hotellerie und Restauration) geht davon aus, dass mindestens ein Viertel aller Betriebe im Aargau die Coronakrise nicht überleben werden.
  • Wer nun aber glaubt, alle Aargauer Beizer litten schwer unter den Folgen des Lockdowns, der wird bei genauerem Hinsehen rasch eines Besseren belehrt. Horizonte begleitete die ökumenische Gastroseelsorgerin Corinne Dobler ins Obere Freiamt.

 

Etwas wie den Lockdown hat Albert Egloff noch nie erlebt. Und das will etwas heissen. Immerhin ist der 67-Jährige bereits seit über 40 Jahren Wirt – ehemals im Chappelehof in Wohlen, seit über 30 Jahren in Bellikon. Die Coronakrise hat ihm nicht zugesetzt. Albert Egloff ist einfach froh, dass er wieder Gäste bewirten kann. Das Gastgewerbe ist seine Leidenschaft – auch übers Pensionsalter hinaus.

Die «Anfänger» trifft es am härtesten

«Hauptsache, es geht jetzt weiter, alles andere sehen wir dann später», höre sie immer wieder in Gesprächen mit Wirten, erklärt Corinne Dobler. Die ökumenische Gastroseelsorgerin aus dem Aargau zeigt sich bei gesellschaftlichen Anlässen der Wirte und bietet Hand zu seelsorgerischem Gespräch, wo dies gewünscht wird. Einmal im Jahr organisiert die reformierte Pfarrerin mit ihrem katholischen Kollegen, dem Zirkus- und Schausteller-Pfarrer Adrian Bolzern, einen Wirtegottesdienst in Muri und eine Wallfahrt ins Jonental (siehe Begleittext). Auch bei den Proben des Wirtechors zeigt sich die Theologin mit den keck gefärbten Haaren regelmässig.

«Wer schon 20 bis 30 Jahre im Geschäft ist, hat Erfahrung und weiss Krisen zu meistern», erklärt Corinne Dobler mit Blick auf die in den Medien oft beschworene Krise der Gastrobranche im Zuge des Lockdowns. Gewiss: Jene, die noch nicht so lang im Geschäft sind, die treffe es schon hart. Schon vor der Krise waren 65 Prozent der Aargauer Gastro-Betriebe nicht rentabel. «Gerade wenn jemand anfängt, nimmt er sich kaum Lohn, steckt alles in die Infrastruktur», weiss auch Albert Eggloff. «Wenn dann so etwas passiert wie der Lockdown, ist das schon schlimm. Besonders, wenn mehrere Tausend Franken Pacht monatlich bezahlt werden müssen.»

Geld, dank der Versicherung gegen die Pandemie

Mit der Wiedereröffnung nach Bekanntgabe der Lockerungen hat sich die Situation für viele Wirte nicht entspannt. Innerhalb einer Gaststube müssen Abstandsregeln eingehalten werden, zudem ist die Platzzahl an den Tischen beschränkt. Bei Albert Egloff stehen die Tische weiter als sonst auseinander, aber immerhin kommen die Gäste wieder.

Marcel Huber, der mit seiner Geschäftspartnerin Lydia Mai oberhalb von Jonen ein Ausflugsrestaurant betreibt, empfängt uns an seinem Ruhetag. Sowohl in der Gaststube als auch auf der Terrasse wurde das Platzangebot ausgedünnt. Gleichwohl gibt sich Marcel Huber ähnlich gelassen wie Alfred Egloff. Man müsse positiv denken, sagt er. Er jedenfalls habe die Zeit des Lockdowns für Anderes nutzen können. Aber klar: Heute habe ja kaum noch jemand finanzielle Reserven – auch weil sich das aus steuerlichen Gründen nicht rentiere, sagt er. Insofern könne es schon schnell einmal eng werden.

Marcel Huber und Albert Egloff gehören nicht nur zu den alten Hasen im Geschäft, sondern offensichtlich auch zu den schlauen Füchsen ihres Gewerbes. Beide haben sie eine Pandemie-Versicherung abgeschlossen. Eine solche entschädigt Umsatzausfälle oder laufende Kosten wie die Miete. Marcel Huber hat zudem einen zinslosen «Coronakredit» beantragt und erhalten. Gebraucht habe er ihn noch nicht, wie er sagt.

Das verordnete Untätigsein machte viele depressiv

Die Unterstützung von Seiten der Politik greife durchaus, sind sich beide Wirte einig. Den meisten Wirten habe weniger die Existenzangst als vielmehr das verordnete Untätigsein während des Lockdowns und die Ungewissheit darüber, wann wieder geöffnet werden könne, zu schaffen gemacht. «Viele Wirte kennen nichts anderes als ihre Arbeit, die haben keine Hobbys und über ihre Gäste hinaus auch kein soziales Netz» weiss Marcel Huber. Einige seien da regelrecht depressiv geworden, bestätigt Corinne Dobler.

Während des Lockdowns hätten ihr einige Wirte das Herz ausgeschüttet, so Corinne Dobler. Aber öffentlich über ihre Sorgen reden, wollten viele Aargauer Wirte nicht. Im Kontakt stehe sie vor allem mit älteren, traditionellen Wirten. Denen sei die Religion noch wichtig – im Gegensatz zu den Jüngeren. Und die traditionellen Wirte hätten oft auch kleinere Betriebe mit Stammkundschaft. «Diese trifft die Krise generell weniger hart.» Je grösser der Betrieb, je mehr Bankette, desto grösser der Schaden, weiss die Seelsorgerin.

Wichtig sei es, die Chancen zu sehen

Marcel Huber ist nach der Wiedereröffnung gut gestartet. Er hat oft volles Haus und muss viele Leute vertrösten. Natürlich könne er aufgrund der Auflagen nur noch ein Drittel der üblichen Gäste bewirten, doch der 44-jährige Gastwirt weiss der Situation auch Chancen abzugewinnen.

Ein Maske trägt Marcel Huber nicht. Er bedauert, dass er in den ersten Wochen nach Ende des Lockdowns nicht mehr wie früher einfach zu seinen Gästen an den Tisch sitzen darf. Das Soziale sei im Zuge der Pandemiebekämpfungsmassnahmen unter die Räder gekommen. «Darum kommen auch keine Leute mehr an den Stammtisch – weil sie nicht mehr zusammensitzen dürfen.» Dasselbe gelte für den Znüni in der Beiz: «Der Znüni ist tot», weiss Marcel Huber von Wirtskollegen. Das sei schon traurig.

Hoffen auf weitere Lockerungen

Sowohl Albert Egloff als auch Marcel Huber sind überzeugt, dass in Anbetracht der positiven Entwicklung der letzten Wochen bald weitere Beschränkungen fallen werden und sich die Situation weiter normalisiere. Und vielleicht kommen dann die Leute auch für den Znüni wieder in die Beiz.

 

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