08.09.2016

Neun Sterbebetten in Brugg

Von Anne Burgmer

Noch immer wissen viele Menschen nicht, was ein Hospiz ist. Sie bringen den Begriff mit Armut in Verbindung, nicht mit Begriffen wie Herberge oder Gastlichkeit. Letztere ist im Hospiz in Brugg so gross, dass auch mitten in der Nacht Currywurst mit Fritten serviert werden.

Wer im dritten Stock des Pflegeheims Brugg den Lift verlässt bemerkt schnell: Das ist keine normale Station. Denn die Atmosphäre erinnert eher an eine grosse, etwas spezielle Wohngemeinschaft: Freundliche Farben, warmes Licht, ein liebevoll eingerichtetes Wohnzimmer. «Einige Bewohner sind sehr mobil. Die treffen sich dann dort zum Plaudern oder essen gemeinsam. Da kann es sehr lustig werden», erzählt Dieter Hermann.

«Wir sind Wunscherfüller», sagt der 52-jährige dann mit Strahlen im Gesicht. Seit April 2016 ist er Geschäftsführer des Hospiz Aargau. Mit am Tisch sitzt, mit leuchtenden Augen, Margrit Muoth-Hegglin, 65 Jahre alt und Seelsorgerin im Hospiz.

Verschnaufpause für Alle

Vieles, was die beiden erzählen, irritiert. Es passt nicht zum Bild von Angst vor Schmerzen und überlasteten Angehörigen. Dieter Hermann stellt diesen Irrtum schnell richtig: «Was wir im Hospiz bieten können, ist zunächst sehr gute Palliativpflege. Die meisten Schmerzen kann man mittlerweile stillen. Das andere – weit Wichtigere – ist, dass die Angehörigen hier nicht pflegen müssen. Sie dürfen diesen Teil abgeben und das befreit sie. Die Frau eines Bewohners nahm sich beispielsweise die Zeit, daheim Holunder zu ernten. Das war eine Verschnaufpause, die sie nicht zugelassen hätte, wenn ihr Mann zu Hause gewesen wäre».

Auch für die Pflegebedürftigen ist der Eintritt ins Hospiz eine Erleichterung. Sie dürfen die Anspannung und Sorge, ihren Lieben zur Last zu fallen, abgeben. Sie werden pflegerisch, medizinisch, spirituell und seelsorglich umsorgt und stabilisieren sich nicht selten. «Ich bin hierhergekommen und dachte, ich sterbe. Und nun geht es mir besser», zitiert Margrit Muoth-Hegglin einen Bewohner. Dieter Hermann fügt hinzu: «Wir haben auch Bewohner wieder nach Hause oder ins Pflegeheim entlassen können. Das Wichtige für sie und die Angehörigen ist: Sie wissen nach dem Aufenthalt hier, wohin sie gehen können, wenn es nicht mehr geht.»

Auch ambulante Sterbebegleitung zuhause

Die neun Betten in Brugg, das ‹Hospiz Palliative Care Stationär›, wie es eigentlich heisst, sind nicht das einzige Angebot des Vereins Hospiz Aargau. Die Entlastung Angehöriger und die Begleitung sterbender Schwerkranker kann auch daheim in Anspruch genommen werden. «Die engagierten Freiwilligen von ‹Hospiz Ambulant› sind über den ganzen Aargau verteilt», erklärt Dieter Hermann. Schliesslich gibt es für alle, die um einen geliebten Menschen trauern, den ‹Hospiz Trauertreff›: Alle zwei Wochen, in Brugg, Wohlen und Bad Zurzach.

Bevor Dieter Hermann Geschäftsführer wurde, tat er sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich des Hospizes Dienst. Er nennt Unterschiede: «Im stationären Bereich haben wir eine Zwei-zu-eins-, in manchen Fällen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Es gibt das Team und ein multiprofessionelles Umfeld. In einem Privathaus ist anders, da ist der Mitarbeiter auf sich gestellt und hat im Vergleich nur eingeschränkte Möglichkeiten. Oft ist die Atmosphäre wegen der belastenden Pflegesituation angespannt. Das ist das Merkwürdige bei der ambulanten Betreuung: Es geht nie um den Sterbeprozess. Als hätte der Mensch daheim keine Zeit zu sterben, weil das Thema Tod schon omnipräsent ist, bevor der Tod eintritt. Das ist ein weiterer Unterschied.»

Finanzierung als Herausforderung

Doch: Das Hospiz schreibt rote Zahlen. «Wir haben 2014 aufgestockt. Unser Personalstand ist nun so, dass wir defizitär fahren», erklärt Dieter Hermann. «Sechs Betten waren gut, 12 wären gut, die Mitte ist wirtschaftlich ungünstig. Bei dieser Bettenzahl beträgt die Deckungslücke etwa 600 000 bis 800 000 Schweizer Franken. Ein zweiter Standort wäre eine Variante, doch zunächst möchte ich hier schwarze Zahlen haben. Dafür sind ein stringenter Konsolidierungskurs und Neuausrichtungen im Bereich Fundraising notwendig. Ohne das bestünde für Hospiz Aargau unter den aktuellen Bedingungen ein Überlebensfenster von 2 bis 3 Jahren – aber: Entsprechende Massnahmen sind proaktiv eingeleitet und in Umsetzung», so der Geschäftsführer.

Das stationäre Hospiz in Brugg ist auf der Pflegeheimliste. Das heisst, die teilweise Abrechnung über die öffentliche Hand und die Krankenkasse ist möglich. Das ergibt eine Kostendeckung von 25 Prozent. Weitere 35 bis 40 Prozent trägt der Patient. Den Rest, etwa einen Drittel, trägt der Verein durch Sponsoren und Spenden bei. Weil die allgemeine Spendenfreudigkeit nachlässt, werden spezielle Konzepte in diesem Bereich notwendig. «Mittlerweile häufen sich Fälle, wo wir auf unseren Kosten sitzen bleiben. Wenn jemand unerwartet länger bleibt, geht das ins Geld. Besonders bei jungen Menschen, die eine Familie oder gebaut haben», erklärt Dieter Hermann. Dann gibt er noch einen Hinweis: «Wer weitsichtig handelt, legt fest, dass eine allfällige Lebensversicherung zum Beispiel zur Zahlung der Hospizrechnung verwendet wird».

Landeskirchen setzen auf Aus- und Weiterbildung

Auffallend: Die Aargauer Landeskirchen, die sich stark im Bereich Palliative Care engagieren, zahlen gemäss Dieter Hermann nichts an die laufenden Kosten. Luc Humbel, Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau will das auf Nachfragen so nicht stehen lassen: «Wir haben beim Umbau im Jahr 2014 mit 20 000 Franken eine grosszügige Unterstützung an das Hospiz Brugg geleistet. Dass wir nichts an die Betriebskosten zahlen, ist ein Grundsatzentscheid in Bezug auf externe Institutionen. Die Landeskirche sieht es nicht als ihre Aufgabe an, Strukturen mit Betriebsbeiträgen zu finanzieren.  Unser Bestreben ist es, Prozesse mit zu prägen, und das können wir besser durch Projektbeiträge».

Alle drei Landeskirchen engagieren sich finanziell in der Aus- und Weiterbildung «Palliative Care und Begleitung». Die Ausbildung richtet sich in erster Linie an interessierte Freiwillige, aber auch an Fachpersonen aus Pflege, Medizin und Seelsorge. Da das Hospiz zwar im Bereich Pflege, nicht aber im Bereich Palliative Care ausbildet, werden auch Personen für den Einsatz im Hospiz ausgebildet. Das Hospiz seinerseits bietet Praktikumsplätze an. Jürg Hochuli, Verantwortlicher für die Palliative Care-Arbeit aufseiten der Reformierten Landeskirche Aargau, betont: «Wir suchen das Gemeinsame und unterstützen uns gegenseitig in der Begleitung und gestalten verschiedenste Inhalte miteinander.»

Offen, wenn der Tod naht

Wir gehen ins Wohnzimmer des Hospizes. Auf dem Weg dorthin finden sich gemütlich gruppierte Sessel und offene Zimmertüren. Geblümte Vorhänge lassen den Besucher ein Bett, einen Bewohner erahnen. Aus manchen Zimmern klingen Gespräche.

Ob es irgendetwas gebe, dass den Menschen hier gemeinsam sei? Margrit Muoth-Hegglin überlegt und sagt dann: «Was mir auffällt: Die Menschen werden offen. Auch spirituell. Es gibt kein verbohrtes Glauben oder Nicht-Glauben mehr, sondern Gespräche von allen über alles. Die Menschen tragen keine Maske mehr, wozu auch? – Es geht um Grundlegenderes. Das erlebe ich auch bei den Angehörigen.» Dieter Hermann nickt: «Es gibt keine Hürden mehr. Es darf alles, wirklich alles, gefragt und thematisiert werden. Dafür sind unsere Leute da. Und auch wir lernen dabei».

Eine letzte Zigarette

98 Prozent der Verstorbenen seien gelöst – weil Loslassen in diesen Wänden möglich sei. «Sie finden wohl ihren Seelenfrieden und sind gelöst und schön im Tod», sagt Dieter Hermann. Er und Margrit Muoth-Hegglin sind sich einig: Es ist ein Privileg, diese letzten Meter auf dem Lebensweg eines Menschen mitzuerleben und als Wunscherfüller zum guten Ende beitragen zu können. «Es gab eine Raucherin hier», erinnert sich Margrit Muoth-Hegglin, «Die Frau war immobil und wollte irgendwann noch eine Zigi rauchen. Die beiden Pflegerinnen haben kurzerhand ihr Bett auf den Balkon geschoben. Das ist unglaublich kompliziert, doch sie machten es möglich. Der Neffe hat ein Foto von ihr gemacht, 20 Stunden später war sie tot.»

Ein anderes Beispiel nennt Dieter Hermann: «Eine Bewohnerin hat zum Schluss das Essen kaum mehr vertragen und deshalb nur wenig gegessen. Eines Nachts wünschte sie sich plötzlich Currywurst mit Pommes. Jetzt versuchen Sie mal, das um zwei Uhr nachts zu organisieren. Doch wir haben alles gemacht, damit sie das bekommt. Sie hat es vertragen und ist ein paar Tage später gestorben». Auch Matratzenlager für Verwandte hat das Hospiz in Brugg schon gesehen.

Wenn Exit keine Rolle mehr spielt

Die Offenheit für den Bewohner und seine Wünsche sowie für dessen Angehörige ist das zentrale Element der Arbeit. Diese Offenheit verurteilt nicht und akzeptiert, dass es einen Graubereich beim Übergang von Sterbebegleitung zu Sterbehilfe gibt. «Ich mache Sterbebegleitung, keine Sterbehilfe», erklärt Dieter Hermann. «Und auch wenn wir nicht aktiv gegen Exit missionieren, das ist nicht unser Verständnis vom Lebensende.» Aber eine Schnittmenge von Sterbebegleitung und Sterbehilfe gebe es: «Eine Bewohnerin ist im Sterbefasten: Sie ist 96 Jahre alt und parat. Das Umfeld trägt ihren Entscheid mit. Das liegt in der Schnittmenge. Andererseits gab es Bewohner, die Exit-Mitglied waren und für die Exit keine Rolle mehr spielte, weil sie hier erlebt haben, wie man das Lebensende gestalten kann.»

Zum Thema Sterbehilfe ergänzt Dieter Hermann noch etwas Persönliches: «Das ist jetzt sehr spirituell, aber wenn ich auf Exit setze, unterbinde ich ein mögliches Wunder. Nicht das der körperlichen Heilung, aber das der seelischen Heilung. Wer ad hoc oder nach Termin Suizid begeht, lässt der Seele keine Zeit».

Homepage des Hospiz Aargau

Ausbildung Palliative Begleitung der Aargauer Landeskirchen

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