14.01.2019

Ökumenisch, interreligiös, sinnlich: Der HRU

Von Anne Burgmer

  • Während der Religionsunterricht in der Regelschule viel über die kognitive Schiene vermittelt, setzt der Heilpädagogische Religionsunterricht (HRU) auf Erleben und Anfassen.
  • Horizonte schaute der erfahrenen Katechetin Edith Amstutz bei zwei Lektionen über die Schulter.

 

«Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name…», kräftig und selbstbewusst tönt das Gebet durch die leere Kirche St. Johannes Evangelist in Döttingen. Jasmin, die im Rollstuhl sitzt, spricht begeistert all die Worte, die sie besonders gut kann oder die ihr gefallen. Der gross gewachsene Fabian betont jedes einzelne Wort, artikuliert ganz genau. Dazwischen mischt sich die leicht verwaschene, weiche Sprechweise von Loren. Die acht Jugendlichen, die mit ihrer Katechetin und einer Klassenassistenz vorne rechts im Raum um den Kerzenständer stehen, hauchen dem vertrauten Gebet einen völlig neuen Rhythmus ein.

Riechen, tasten, schauen

Jasmin, Fabian, Loren, ihre Zwillingsschwester Laura, Nathanael, Melanie, David und Gabriel sind Oberstufenschüler an der Heilpädagogischen Schule (HPS) Döttingen. Ihre Katechetin ist Edith Amstutz. Vor dem gemeinsamen Gebet haben die Jugendlichen Kerzen entzündet – zum Abschluss der heutigen Unterrichtsstunde. In dieser hat die Katechetin mit ihnen gemeinsam goldglitzernde Steinchen angeschaut,  kissenartige, weissstaubige Myrrhestückchen befühlt und an rauchenden, harzig gelblichen Weihrauchkörnern geschnuppert.

Der Inhalt dieser Freitagslektion: Die Heiligen drei Könige und ihre Geschenke an Jesus in der Krippe. Die steht in Döttingen vor dem Altar. Fast mannshohe Figuren aus verschiedenen Baumsorten. Jeder König hat eine andere Rinde. Auch die haben die Mädchen und Jungen mit den Fingern ertastet. Dieser Kirchbesuch zeigt, wie stark die Sinne der Kinder, die verschiedene kognitive und teils körperliche Einschränkungen haben, im Heilpädagogischen Religionsunterricht – kurz HRU, angesprochen werden.

Weniger Arbeitsblätter

Seit 16 Jahren arbeitet Edith Amstutz als katholische Katechetin in der Regelschule, seit sechs Jahren gibt sie auch an der HPS in Döttingen den ökumenischen HRU; vier Lektionen am Stück, später wird sie mit den Unterstufenschülerinnen und –schülern Felix, Ramon, Katrina und Davide erneut die Kirche und die Heiligen Drei Könige besuchen. «Ein Unterschied zwischen meinen Klassen hier und den Primarschülern an der Regelschule ist, dass ich mit den Kindern dort mehr Arbeitsblätter mache als hier», sagt die 60 Jährige.

Die Pfarrgemeinde kam auf sie zu, als die Vorgängerin an der HPS aufhörte und Edith Amstutz sagte zu. «Mit meinem Rucksack an Erfahrung habe ich mir das zugetraut. Ungewohnt war am Anfang, dass ich hier auch Grosse unterrichte, aber das hat sich schnell eingespielt. Jetzt habe ich Schüler, die ich schon seit Jahren kenne und begleite und es ist schön zu erleben, wie sie sich entwickeln. Es wachsen tragfähige Beziehungen», sagt Edith Amstutz.

Methodisch vielseitig

Rita Mathis, Fachmitarbeiterin für Katechese an der Fachstelle Pastoral bei Menschen mit Behinderung, erläutert zentrale Aspekte im Zusammenhang mit dem heilpädagogischen Religionsunterricht: «Es geht auf der formalen Seite des HRU um die Professionalisierung und Aufwertung der Katechetinnen und Katecheten. Das leistet die Ausbildung nach Formodula. Auf der inhaltlich-didaktischen Ebene geht es darum, methodisch vielseitig und differenziert zu arbeiten. Der Unterricht konzentriert sich auf die sinnliche Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen. Der HRU folgt den Jahreszeiten und beschäftigt sich auf deren Grundlage mit verschiedenen Lernfeldern, die die Kinder und Jugendlichen je nach Alter, Beeinträchtigung und Erfahrung immer neu erleben und erfassen können.»

Alle gehören dazu

Der HRU findet immer ökumenisch oder interreligiös statt, thematisiert konfessionelle Feste und Bräuche. «Erstkommunion, Firmung oder Konfirmation sind konfessionell gebunden. Ein grosses Ziel ist es, inklusiv mit den Pfarrgemeinden zu arbeiten. Wenn möglich und sinnvoll sollen die Kinder inklusiv in der Heimatpfarrgemeinde vorbereitet und dort das konfessionelle Fest mit den gleichaltrigen Kindern feiern. Das verlangt sorgfältige Vorbereitungen », sagt Rita Mathis und ergänzt: «Für die Pfarrgemeinde kann es eine Bereicherung sein, denn sie kann das lebendig feiern, was das Christentum wertvoll macht: Alle gehören dazu».

Dennoch ist Rita Mathis bewusst, dass der HRU in verschiedenen Themenfeldern balanciert: Zwischen Ausbildung und Praxis einerseits und dem Abwägen von Methode und Inhalt andererseits. Auch die Verfasserinnen und Verfasser des Lehrplans thematisieren die Herausforderung: «Unsere Denkkultur versucht in der Regel, den Erweis von Wahrheit über den Verstand, also über die kognitive Einsicht in logische Zusammenhänge zu leisten. (…) Die dafür notwendigen Fähigkeiten stehen Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung [nur bedingt] zur Verfügung. Aber auch sie haben die Chance, die Wahrheitsfrage in Zusammenhang mit dem Glauben für sich zu klären.»

Interesse für das «Mehr» im Leben

Davide, Katrina, Felix und Ramon, die nach der grossen Schulpause mit der Katechetin und einer Klassenassistenz zur Kirche gehen, sind wuseliger und lauter, setzen sich nach der Lektion begeistert auf die Schafe am Eingang. «Sie sind jünger, den Unterschied zu den Älteren merkt man da schon», sagt Edith Amstutz mit einem Lachen. Das ist bei allen Kindern gleich, genau wie das Interesse für das «Mehr» im Leben, für Fragen nach Gott und der Welt.

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