22.02.2018

Wegbegleitung hilft Menschen aus der Krise

Von Andreas C. Müller

  • Seit sechs Jahren unterstützt das Projekt Wegbegleitung der reformierten und der römisch-katholischen Kirche im Aargau Menschen in schwierigen Situationen. Die Arbeit machen geschulte Freiwillige. Allein 2017 wurden kantonsweit 186 Wegbegleitungen durchgeführt. Der Arbeitsaufwand der Freiwilligen umfasste 2’975 Arbeitsstunden.
  • In der Region Aarau werden seit Beginn dieses Jahres auch Wegbegleitungen für Jugendliche und junge Erwachsene angeboten.
  • Bei der Organisation des Projekts ziehen Reformierte und Katholiken partnerschaftlich an einem Strick. Bei der Umsetzung in den Gemeinden hinken die Reformierten den Katholiken jedoch hinterher. Der Grund ist nicht nur das fehlende Geld.

 

«Wir sind nach wie vor keine Freunde – der Briefkasten und ich», gibt Adrian Schneider (Name von der Redaktion geändert) zu und entnimmt seine Post bei der Eingangstüre seines Hauses. Erneut ein ganzes Bündel. Der Papierkrieg sei gar nicht seine Sache, meint der 52-jährige Marktfahrer. Mittlerweile habe er jedoch Strategien, um die Briefflut zu bewältigen – dank dem ökumenischen Projekt Wegbegleitung des Pastoralraums «Region Aarau» und der angeschlossenen reformierten Kirchgemeinde Kirchberg.

Vom Sozialamt gemobbt, von der Briefflut erdrückt

Nach einer schweren Lebenskrise stand Adrian Schneider am Abgrund, kämpfte mit einer Depression und anderen gesundheitlichen Problemen. Eine Zeit lang bezog er Sozialhilfe. Auf dem Amt habe man kein Verständnis für seine Situation gezeigt, sondern ihn nur unter Druck gesetzt, erinnert er sich. Sogar in den Burghof «zu den Drögelern und Messies» habe man ihn stecken wollen. Und eine Zahnbehandlung habe man ihm mit der Bemerkung verweigert, er solle halt Suppe essen, wenn es mit dem Kauen nicht mehr gehe. Überhaupt: Er sei ein Kostenpunkt und solle doch am besten in eine andere Gemeinde ziehen.

Zu diesem Zeitpunkt vermochte der Verkäufer von 3D-Kunstkarten seine Post nicht mehr allein bewältigen. «Die Rechnungen stapelten sich ungeöffnet in Wäschezubern, Schubladen und Schränken» erinnert er sich. Betreibungen und die Androhung anderer Zwangsmassnahmen liessen nicht lange auf sich warten. Über einen Kontakt bei der Lungenliga kam der gesundheitlich angeschlagene Adrian Schneider vor bald zwei Jahren zum Projekt «Wegbegleitung». Dieses hilft Menschen in Situationen, wie sie Adrian Schneider erlebte. Das Projekt wurde vor sechs Jahren von der Reformierten und der Katholischen Landeskirche im Aargau lanciert (Horizonte berichtete) und hat in mehreren Regionen Anlaufstellen. So auch im Raum Aarau, wo Eveline Kohler im Rahmen einer 60-Prozent-Stelle seit Anfang des Jahres die Wegbegleitungen neu für den gesamten Pastoralraum «Region Aarau» und die angeschlossene reformierte Kirchgemeinde Kirchberg koordiniert.

Freiwillige helfen bei Wohnungssuche und Korrespondenz

«Wir verstehen unser Angebot bewusst als Ergänzung zu den vorhandenen Fachstellen und Angeboten der Sozialen Dienste. Wir unterstützen punktuell, wenn Menschen sich in schwierigen Situationen befinden und niemanden haben, der ihnen hilft», erklärt Eveline Kohler. Das Angebot umfasst beispielsweise Unterstützung bei der Wohnungssuche, bei der Korrespondenz oder beim Einkaufen, wenn sich jemand nicht mehr aus dem Haus traut. Oder auch beim Entrümpeln der Wohnung, wenn jemand dort so viel angestaut hat, dass er den Überblick verloren hat.

Gearbeitet wird mit Freiwilligen. Zur Verfügung stellen kann sich jeder, der Interesse hat, anderen Menschen zu helfen. In einem persönlichen Gespräch prüft Eveline Kohler als Leiterin der Vermittlungsstelle die Bewerbungen und klärt mit den interessierten Personen deren Kompetenzen. Voraussetzung sei die Bereitschaft, sich auf Menschen und deren Probleme einzulassen sowie Diskretion. Alle Wegbegleiter werden für Ihre Einsätze geschult und regelmässig weitergebildet. «Zur Verfügung stellen sich in der Regel Menschen, die ihre Fähigkeiten auch nach der Pensionierung sinnvoll einsetzen möchten», weiss Eveline Kohler. Die ausgebildete Sozialpädagogin, die während 19 Jahren die Sozialen Dienste der Gemeinde Schöftland leitete, hätte gerne auch jüngere Menschen, die sich als Wegbegleiter zur Verfügung stellen. «Die haben in der Regel aber andere Interessen», konstatiert sie. «Jüngere für einen Einsatz für die Wegbegleitung zu motivieren, ist eine meiner grössten Herausforderungen».

«Wir lassen niemanden ins Leere laufen»

Die Unterstützung durch die Wegbegleitung ist «für eine gewisse Zeit gedacht. Hernach sollte es dann allein gehen», beschreibt Eveline Kohler den Unterstützungsansatz. Für eine gelungene Wegbegleitung ist der Vorlauf entscheidend. Als Leiterin der Vermittlungsstelle prüft Eveline Kohler jede Anfrage und sucht dann ein erstes Gespräch mit der Hilfe suchenden Person. Gegebenenfalls brauche es auch mehrere Treffen. Weiter wird dann nach einer passenden Person für die Wegbegleitung gesucht, welche die Leiterin der Vermittlungsstelle zu einem Folgegespräch für eine erste Kontaktaufnahme mitbringt. Beide Seiten könnten dann prüfen, ob sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen können. «Ein Abbruch ist jederzeit möglich, wenn es nicht passt», ergänzt Eveline Kohler. «Das ist nicht so wie bei den Ämtern, wo die Zusammenarbeit mit einer bestimmten Person zwingend vorgegeben ist.»

Der Marktfahrer Adrian Schneider wurde während gesamthaft anderthalb Jahren regelmässig unterstützt. «Zu Beginn kam mein Wegbegleiter wöchentlich zwei Stunden, später dann alle zwei Wochen», erinnert er sich. Von Besuch zu Besuch habe man stets vereinbart, was bis zum nächsten Mal erledigt werden soll. Noch heute steht der 52-Jährige in Kontakt mit seinem Wegbegleiter. Es habe sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. «Wir telefonieren ab und zu miteinander und ich erzähle, wie es mir geht. Und wenn ich Hilfe brauche, kommt er vorbei.»

Natürlich entwickelten sich die Wegbegleitungen nicht immer so erfolgreich. Manchmal seien es nur kleine Schritte, welche die betreuten Personen während der Wegbegleitung schaffen.  «Wir lassen aber niemanden ins Leere laufen» versichert Eveline Kohler. «Wenn weiter Hilfe benötigt wird, kümmern wir uns um die Vernetzung mit passenden Diensten».

Die Nachfrage an Wegbegleitungen übersteigt das Angebot

Das Angebot ist gefragt. Allein im Gebiet der Pfarrei Aarau und der reformierten Kirchgemeinde Kirchberg wurden im vergangenen Jahr 16 Wegbegleitungen mit einem Aufwand von gegen 500 Stunden durchgeführt. Sechs Anfragen konnten weitergereicht, acht mussten abgesagt werden. In der Pfarrei Schöftland waren es im gleichen Zeitraum 14 Wegbegleitungen mit gegen 300 Stunden. Weitergereicht werden konnten fünf, abgesagt werden mussten fünf Anfragen. Betreut wurden hauptsächlich Frauen und Männer im Alter von 30 bis 60 Jahren.

Trotz des Engagements vieler Freiwilliger fallen für das Projekt Kosten an: Insgesamt 80 000 Franken pro Jahr für die Koordination und Vermittlung sowie Schulung und Weiterbildung der Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter. «Wir haben deutlich mehr Anfragen als wir abdecken können», meint Eveline Kohler und macht keinen Hehl daraus, dass sie froh um zusätzliche Freiwillige wäre. Insbesondere weil seit Anfang dieses Jahres im Raum Aarau auch eine Wegbegleitung für Jugendliche möglich ist – ein Pionierprojekt im Aargau.

Neu gibt es auch Wegbegleitungen für Jugendliche

Bereits habe man einen ersten Fall, berichtet Eveline Kohler: Ein Jugendlicher, der seine Lehre abgebrochen hat und nur noch zuhause vor dem Computer abhängt. «Das RAV und die Sozialen Dienste kommen natürlich nicht zu dem jungen Mann heim, motivieren und helfen ihm bei den Bewerbungen. Da setzt nun die Wegbegleitung an.»

Es fehlt nicht nur an Freiwilligen, die eine Wegbegleitung übernehmen können, auch der ökumenische Ansatz des Projekts trägt noch nicht so recht Früchte. Von insgesamt zehn Vermittlungsregionen im Aargau arbeiten nur deren zwei wirklich ökumenisch: Wohlen und Bremgarten-Mutschellen.

«Die Reformierten tun sich schwer mit dem Projekt»

«Die reformierten Kirchgemeinden tun sich noch etwas schwer, sich mit uns für das Projekt Wegbegleitung zu engagieren», erklärt Eveline Kohler. Im Raum Aarau ist einzig die reformierte Kirchgemeinde Kirchberg aktiv am Projekt beteiligt. Man habe keine eigenen diakonischen Mitarbeitenden, weshalb sich das Projekt anbiete, heisst es dort. «Zwei Herren aus der Kirchgemeinde machen Wegbegleitung und haben auch Kunden», so Pfarrer Erich Strahm. Gleichwohl ist man in Kirchberg unzufrieden. Grund: Der neue Flyer. «Da werden wir nur knapp erwähnt», so Erich Strahm. «Das ärgert nicht nur mich, sondern auch die Kirchenpflege. Darum wird die Wegbegleitung auch in diesem Gremium ein Thema sein.» Nur mithelfen und zahlen, aber nicht angemessen erwähnt werden, sei unbefriedigend. Wenn sich das nicht ändere, werde man sich die Zusammenarbeit überlegen. «Ein spezifischer Flyer für die Kirchgemeinde Kirchberg ist in Absprache mit der reformierten Landeskirche bereits in Planung», kontert Martin Fricker, Kommunikationsverantwortlicher des Pastoralraums «Region Aarau» die Kritik von reformierter Seite.

Geldsorgen der Kirchgemeinden haben Konsequenzen

Christian Härtli von der Fachstelle Diakonie der Reformierten Landeskirche Aargau sieht jedoch noch weitere Gründe für die nach wie vor nicht optimal funktionierende ökumenische Zusammenarbeit: «Zunächst einmal sind die Grenzen der reformierten Kirchgemeinden nicht deckungsgleich mit den katholischen Pfarreien, darüber hinaus haben die Reformierten mit den Sozialdiakoninnen und Sozialdiakonen einen Berufsstand, den es auf katholischer Seite so nicht gibt, der aber für die Führung diese Angebots prädestiniert ist.» Während die Wegbegleitung auf katholischer Seite als rein sozialarbeiterisches Projekt läuft, verstehen die reformierten Kirchgemeinden Wegbegleitung als ein Angebot, das Kirche im Alltag erlebbar macht und so immer wieder ein neues Erleben von Kirche ermöglicht, erklärt Christian Härtli. «Und letztlich spielt auch das Geld eine Rolle: bei abnehmenden Mitgliederzahlen überlegen sich die Kirchgemeinden gut, wofür sie Geld sprechen.»

Kurt Adler-Sacher, seit Sommer vergangenen Jahres Leiter der von der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau neu geschaffenen Fachstelle für Diakonie, geht hinsichtlich der bestehenden Herausforderungen mit seinem reformierten Kollegen einig. Ja, die Reformierten hätten andere Strukturen, räumt Kurt Adler-Sacher ein, doch erlebe er von bestimmten Regionen, dass die ökumenische Zusammenarbeit sehr gut funktioniere. Und im Grunde sei die Wegbegleitung ein ökumenisches Projekt durch und durch, weil ja Reformierte und Katholiken gemeinsam die Federführung hätten. «Ob es jetzt vor Ort irgendwo nur katholisch oder nur reformiert läuft, ist nicht so entscheidend. Die Hauptsache ist, dass es läuft – das heisst, dass Menschen in schwierigen Lebenssituationen eine Wegbegleitung finden.»

Wegbegleitungen bald auch in Oftringen

Für die Zukunft ist Kurt Adler-Sacher optimistisch, dass das Projekt Wegbegleitung in weiteren Regionen Fuss fassen und auch die ökumenische Zusammenarbeit sich positiv entwickeln wird. «Bezüglich Aufbau Wegbegleitung hat sich durch den KRSD Aargau West in der Region Zofingen einiges getan. Die Vermittlungsstelle startete am 1. Februar und es laufen Gespräche mit der reformierten Seite bezüglich einer Zusammenarbeit», freut sich Kurt Adler-Sacher.

Auch Christian Härtli, von der reformierten Fachstelle Diakone freut sich über die Entwicklung des Projekts Wegbegleitung. Allein im 2017 seien kantonsweit 186 Wegbegleitungen durchgeführt worden. Die freiwilligen Wegbegleiter hätten hierfür gesamthaft 2’975 Arbeitsstunden aufgewendet. Gegenüber 2015, als kantonsweit noch 105 Wegbegleitungen durchgeführt werden konnten, bedeutet das eine deutliche Zunahme, wobei der Zuwachs auch damit zu tun hat, dass immer mehr Regionen im Aargau das Projekt einführen.

Steigender Bedarf bei Menschen mit Migrationshintergrund

Laut Christian Härtli wurden 2017 in Aarau, Brugg, Leutwil-Dürrenäsch und Schöftland die meisten Begleitungen durchgeführt. Als möglichen Grund hierfür nennt der Leiter der reformierten Fachstelle Diakonie den Umstand, dass diese Gemeinden die Wegbegleitungen am Längsten anbieten, und dass das Angebot dort besser bekannt ist als andernorts. Das Durchschnittsalter der begleiteten Personen liegt bei 45 Jahren. Überdies waren lediglich 96 der im Aargau total 186 begleiteten Personen Schweizer. Die anderen haben einen Migrationshintergrund: Am meisten (17 Personen) aus Eritrea, gefolgt von Menschen aus Deutschland (15 Personen).

Adrian Schneider hat sich dank der Wegbegleitung wieder gefangen. Zwischen 50 und 100 Stunden wendet er pro Woche auf, um auf Märkten in der ganzen Schweiz seine Ware anzubieten. Heute Ascona, morgen Winterthur, übermorgen Montreux. Ein strammes Programm. Dank der Wegbegleitung habe er gelernt, «den anfallenden Papierkram» zu ordnen und alles Geschäftliche in einer Excel-Tabelle einzugeben. Rückblickend besonders geschätzt an der Wegbegleitung habe er, dass ihm wirklich jemand zugehört und geholfen habe. Natürlich habe er vorher einigen Leuten von seinen Problemen erzählt. Doch die hätten ihn nicht ernst genommen und nur gesagt: «Das geht schon, du wirst sehen.»

 

 

Alles auf einen Blick auf der kantonalen Webseite

Brauchen Sie Unterstützung? Mitunter können wir aufgrund von Schicksalsschlägen, einer Krankheit oder infolge Arbeitslosigkeit gewisse Dinge einfach nicht mehr leisten oder sind mit bestimmten Aufgaben überfordert. Eine Wegbegleitung kann eine Stütze sein, motivieren und helfen. Sie finden auf der Wegbegleitungswebseite für den Kanton Aargau die Vermittlungsstellen in allen Regionen auf einen Blick für eine Kontaktaufnahme.

Oder aber Sie möchten Menschen in schwierigen Lebenssituationen punktuell begleiten und unterstützen? Auch Sie finden auf der Wegbegleitungswebseite ihren regionalen Ansprechpartner. Noch immer übersteigt die Nachfrage nach Wegbegleitungen das Angebot. Freiwllige Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter sind daher gesucht und geschätzt.

www.wegbegleitung-ag.ch

 

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