05.03.2014

Ohne GPS und Karte

Von Horizonte Aargau

Geplant war ein dreijähriger Aufenthalt. Daraus wurden achtundzwanzig Jahre. Renold Blank war Dogmatikprofessor an der päpstlichen theologischen Fakultät von São Paolo in Brasilien. Nun lebt er mit seiner Frau im Aargau und erzählt, zu was die lateinamerikanische Kirche die hiesigen christliche Gemeinschaft anregen könnte.

Herr Blank, in der Schweiz gibt es eine stark empfundene Trennung zwischen Basiskirche und offizieller Kirche. Ist das in Brasilien ähnlich?
Renold Blank: Nein. Es fällt uns auf, dass das zwei eher getrennte Gruppen sind. In Brasilien gab es quer durch die Strömungen, von konservativ bis progressiv, immer ein gemeinsames Bewusstsein, nämlich «Wir gehören zu ein und derselben Kirche und wir wollen die frohe Botschaft weiter verbreiten». Wir wollen auf dieser Basis die Welt so verändern, wie Gott sie sich wünscht. Der eine geht dabei einen anderen Weg als der andere, aber diese manchmal geradezu feindlichen Lager, die haben wir in Brasilien nicht gekannt.

Heisst das, dass der Tonfall in Diskussionen dort auch anders ist als hier?
Völlig anders. Eines der Grundmodelle von Kirche in der Befreiungstheologie und in den daraus entstandenen Basiskirchen ist: wir sind gemeinsam Kirche. Das Modell dafür ist nicht die Pyramide, die an der Spitze einen Chef hat, der sagt wie es geht, und unten nicken die Untergebenen, sondern das Modell ist der Kreis. In der brasilianischen Kultur und Kirche gibt es einen Ausdruck, der sehr präsent ist: «sentar na roda» das heisst «im Kreis sitzen». Wenn man im Kreis sitzt, sind alle gleich. Wenn beispielsweise jemand eine Meinung vertritt, dann sagt man hier in Europa oder auch in der Schweiz vielleicht: «Davon verstehen sie nichts, sie kommen aus Brasilien, da ist es anders.» In diesem Moment habe ich eine Situation der Ungleichheit. Nach der brasilianischen Konzeption des „im Kreis sitzen“, sage ich: «Das ist interessant, was sie für eine Meinung haben. Das ist eine ganz andere Sichtweise, als ich sie habe. Darüber wollen wir miteinander reden.» Auf diese Weise kommt man nie in eine wirkliche Konfliktsituation. Ich habe ja keinen Feind vor mir sitzen, sondern einen Bruder, eine Schwester. Beide können voneinander lernen. Das ist eine positive Erfahrung.

Charismatische Gruppierungen scheinen dort mehr Erfolg zu haben als  die katholische Kirche. Ist diese, pointiert formuliert, auf dem absteigenden Ast?
Unsere Erfahrung aus Brasilien ist, dass die charismatischen Bewegungen wie ein Strohfeuer sind. Zu Beginn sind alle begeistert und haben applaudiert und nach einigen Jahren flaute diese Begeisterung auch wieder ab und machte einer gewissen Enttäuschung Platz. Mit anderen Worten: das ist auch nicht der Weg. Die brasilianische Kirche geht einen anderen Weg, der die ungeheure Dynamik dessen, was wir Heiligen Geist Gottes in der Kirche nennen, wieder bewusst macht.

Wie genau kann das funktionieren, wenn hier eher Resignation herrscht?
Wir haben in der Kirche viele Möglichkeiten, Antworten zu geben, die Halt und festen Grund geben. Wir müssen uns nur fragen, wie wir diese Antworten übermitteln. Dazu gehört auch, daran zu glauben, dass der Geist Gottes in der Gesamtkirche wirkt und nicht nur in der Klasse der Kleriker. Das macht ja auch die Pastoralumfrage deutlich. Es ist nötig, den sensus fidei – den Glaubenssinn der Gläubigen – in dem der Heilige Geist wirkt, wiederzuentdecken. In dem Masse wie wir auf diesen achten und hören, wird sich auch neue Begeisterung einstellen. Das sieht man deutlich an den Reaktionen auf die kleinen menschenfreundlichen Zeichen von Papst Franziskus Das ist eine weiteres Element welches ich in Lateinamerika gelernt habe: Die Kirche ist eine Kirche, die den Menschen dient. Das heisst nicht, jemand von Oben verkündet: «Ich diene euch jetzt und deshalb müsst ihr dies und jenes tun.»

Was heisst «dienende Kirche» dann?
Dienende Kirche heisst, auf die Menschen zugehen und fragen, wo ihre Probleme und Schwierigkeiten sind. Zuzuhören, Zeit für die Antwort erbitten und dann eine Antwort aus dem Glauben heraus vorstellen. Eine dienende Kirche kann akzeptieren, wenn die Menschen dann vielleicht sagen: nein, diese Antwort nützt uns nicht. Dann ist die dienende Kirche verpflichtet zu sagen, «Gut, lasst uns nochmals Zeit zum überdenken.» Es geht darum, gemeinsam zu diskutieren und einen Weg zu finden und zwar ohne ein GPS in der Hand zu haben. Das Konzil sagt, Kirche ist das messianische Volk Gottes auf dem Weg. Und auf einem Weg kann man auch in die Irre gehen. Wenn wir aber glauben, dass der Geist die Kirche leitet, dann wird sie auch den richtigen Weg finden.

Fehlt das Vertrauen auf diese Leitung durch den Heiligen Geist?
Ja. Wir müssen das wieder ins Bewusstsein auf allen Ebenen in der Kirche bringen. Und wir müssen den Mut haben Experimente zu machen.

Sollen die Gläubigen also ihre Bischöfe in die Pflicht nehmen und sagen, kommt heraus zu uns, redet mit uns und hört uns zu? Haben die Bischöfe nicht genau davor zu viel Angst?
Es ist viel Angst da. Angst, Macht zu verlieren. Das ist ebenfalls eine Grunderfahrung, die wir hier im Vergleich mit der dienenden Kirche Lateinamerikas machen. –  1965 wurde der sogenannte Katakombenpakt geschlossen, den viele lateinamerikanische Bischöfe unterzeichneten. Dieser Pakt beinhaltete den Aufbau einer dienenden Kirche und den Verzicht auf Machtgebaren. Wenn ich beispielsweise von unserem Kardinal etwas wollte, habe ich ihn einfach angerufen. Wir haben uns getroffen, Kaffee getrunken, «im Kreis gesessen» und das Problem besprochen. Keiner war mehr oder weniger wert, denn jeder hat sein Charisma. Auch Paulus sagt: die Charismen sind verschieden aber gleichwertig.

Ist die Kirche im deutschsprachigen Raum dafür nicht zu verkopft?
Ich sehe das nicht so sehr auf der intellektuellen Ebene des Verkopft-Seins. Das Problem ist eher, dass die Kirche im deutschsprachigen Raum zu sehr an hierarchische Strukturen gewohnt ist. Das ist das eine. Das andere ist, dass sie zu sehr an grosse Strukturen gebunden ist. Ich frage mich manchmal, warum wollen wir eigentlich gescheiter sein als Jesus von Nazareth? Der hat mit kleinen Gruppen begonnen und die Urkirche hat auf dieser Ebene rund dreihundert Jahre gut gelebt. In grosse Strukturen hat sie in dem Moment begonnen zu investieren, als sich die christliche Religion mit der politischen Grossstruktur des byzantinisch-römischen Reiches verbunden hat. Die Konsequenz daraus ist die hierarchische Struktur, mit ihren Machtmechanismen, die bis heute besteht. Wir müssen diese Grossstrukturen wieder in Kleinstrukturen, in lebendige Zellen verwandeln. Es geht darum, zu den Quellen zurückzugehen und das sind kleine Gruppen.

Entzünden sich kirchliche Konflikte – wie etwa die Diskussionen um Vitus Huonder – in der Schweiz schneller an der Hierarchie?
Die Schweizer Spezialität ist ja, Fragestellungen im Mehrheitsentscheid zu lösen. Wenn ich das äussere, höre ich oft: «Die Kirche ist aber keine Demokratie» und das stimmt. Sie ist keine Demokratie. Sie ist aber auch keine Monarchie. Doch aufgrund der jahrhundertelangen hierarchischen Vorherrschaft ist ein monarchisches Denken in die Kirche eingesickert, welches wir überwinden müssten. Nochmal: das Konzil sagt deutlich was die Kirche ist. Messianisches Volk Gottes auf dem Weg. Von diesem Blickwinkel her müssen wir anfangen die Probleme zu lösen. Wir sind ja eine geschwisterliche Kirche, sprechen uns mit Bruder und Schwester an. In Europa muss ich diese Anrede erklären, in Brasilien ist sie normal – auch gegenüber einem Bischof.

An der Befreiungstheologie kommt man in Lateinamerika nicht vorbei. Soziale Missstände in den Blick zu nehmen ist ein Ansatzpunkt der Befreiungstheologie. Ist das so?
Die meisten Menschen in Europa sprechen von Befreiungstheologie in ihrer Konzeption bis Ende der siebziger Jahre. Diese fusste auf der Methode «Sehen, Urteilen, Handeln und berief sich auf soziologische Methoden zum Analysieren (Sehen) der Gesellschaft. Wegen ihrer Begrifflichkeiten geriet sie in den Ruf, dem Marxismus nahezustehen,  ein Grund warum sie in vielen Zusammenhängen in Verruf geriet. 1984 kam dann eine erste vatikanische Instruktion zu Fragen der Befreiungstheologie heraus, in deren Gefolge die oben genannte Analyse-Methode verändert wurde. Die Tatsache dieses Methodenwechsels und die Entwicklung seitdem aber wurde in Europa kaum rezipiert.

Wie sah diese Entwicklung aus?
Die Welt wurde basierend auf der Gottes-Reich-Vorstellung betrachtet. Die Frage war: Inwieweit entspricht die Situation, die wir auf sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kirchlicher Ebene haben, den Kriterien des Reiches Gottes, so wie Jesus es verkündet hat? Wenn die Situation dem entspricht, gut. Doch wenn sie dem nicht entspricht müssen wir verändernd handeln.

Stellt die Befreiungstheologie vor diesem Hintergrund auch die Frage nach der Generationensolidarität, zum Beispiel im Hinblick auf die diesjährige Fastenkampagne?
Ja, denn neben der vorrangigen Option für die Armen, die Papst Franziskus betont, gibt es noch eine weitere Grundoption, nämlich die Option für die Jugend. Die ganze Arbeit der Fastenkampagne geht genau in die Richtung. Sie sagt: was für Bedingungen müssen wir für die junge Generation schaffen, damit sie in einen Lebenszyklus hineinwachsen kann, der den Reich Gottes Kriterien entspricht. Damit hängt auch zusammen, die junge Generation wieder für die Kirche zu begeistern. Wenn ich hier in den Sonntagsgottesdienst gehe und mit Anfang siebzig zu den Jüngsten gehöre, heisst das für mich, wir müssen neu begeistern.

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