27.07.2017

Pilgern vor Mikrofon und Kamera

Von Andreas C. Müller

Pilgern ist in. Auch die säkularen Medien haben das Wallfahren entdeckt. Die Aargauer Zeitung pilgert in sechs Folgen durchs Freiamt, während Schweizer Radio und Fernsehen SRF dieser Tage eine historische Pilgertruppe von Basel nach Fribourg schickt. Horizonte traf die zeitreisenden Wallfahrer in Mariastein und analysierte die neue Dimension des Pilger-Hypes.

Emsig kauern drei aus der Zeit gefallene Männer auf dem feuchten Boden vor einer jener Höhlen in Mariastein, die vor 500 Jahren von Pilgern aufgesucht wurden – lange bevor das Kloster darüber errichtet wurde. Die drei Männer in mittelalterlicher Kleidung versuchen Feuer zu machen, derweil zwei Frauen, ebenfalls in historischer Aufmachung, Möhren und Lauch rüsten.

Die Crew im Gasthof, die Pilger auf dem nackten Fels

«Himmel nochmal, meine Hand!», entfährt es dem Aargauer Jungspund Noël Emmenegger. Abwechselnd mit Radio-Moderator Ralph Wicki und dem ehemaligen Schweizergardisten Frowin Bachmann schlägt er eine Eisenöse auf einen Feuerstein. Ab und an springen Funken auf das darunter liegende Zunderbett, doch keiner verfängt. Die Gruppe ist Teil eines Living History-Projekts von Schweizer Radio und Fernsehen SRF und wird umringt von Journalisten mit Kameras und Mikrofon, die alles für das interessierte Fernseh-, Radio- und Internetpublikum dokumentieren.

«Du bist wohl nicht sehr zuversichtlich, dass wir noch eine Suppe kochen», meint Ralph Wicki gegenüber Marie-Therese Zgraggen, die begonnen hat, die Möhren roh zu verspeisen. Die Gruppe ist hungrig. Eine gut achtstündige Wanderung haben die fünf hinter sich gebracht. Seit der Ankunft in Mariastein sind bereits mehrere Stunden vergangen, und noch immer brennt kein Feuer. Das SRF-Team, das darauf wartet, ob es die Pilger schaffen, ein Feuer zu entzünden, lässt die Speisekarte des nahe gelegenen Gasthofs herumgehen. Während die Produktionscrew die Nacht in weichen Betten zubringen wird, muss die Pilgergruppe auf dem feuchten Höhlenboden nächtigen.

Bittere Ironie der Geschichte

«Als ich die Höhle sah, war ich zuerst geschockt», erklärt Andrea Reber. «Hier sollten wir schlafen? Auf dem kalten Stein?» «Dabei hatten wir uns alle darauf eingestellt, im Kloster übernachten zu können», ergänzt Marie-Therese Zgraggen. Doch weil es vor 500 Jahren in Mariastein noch kein Kloster gab, muss die Pilgergruppe draussen schlafen, wie ihnen von der Produktionsleitung und Bruder Leonhard namens der Ordensgemeinschaft eröffnet wird. Welch bittere Ironie der Geschichte.

Bei einem Bauern dürfen sich die fünf Pilger mit Nahrungsmitteln und Strohsäcken eindecken, die als Matratzen dienen. Feuerholz tragen die SRF-Journalisten herbei. «Vergesst nicht, das Holz aus den Netzen zu packen. Die sind fürs Bild störend», mahnt Matthias Thomi, der für «Schweiz aktuell» das Projekt vor Ort koordiniert.

Der Klosterbruder bringt Feuer

Auch wenn Bruder Leonhard die Pilger nicht aufnehmen durfte, steht er dem SRF-Projekt aufgeschlossen gegenüber. «Das ist ein Weg, unseren Wallfahrtsort bekannt zu machen», erklärt er gegenüber Horizonte. Offensichtlich ist ihm nicht ganz wohl dabei, dass die Pilgergruppe eine feuchtkalte Nacht vor den Klostertoren zubringen muss. Dem Benediktiner ist nicht entgangen, wie die Pilger auf den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsort reagiert haben. Zudem hat der Wetterbericht neue Niederschläge angekündet. Sorge und Neugier führen den Klosterpater zur Dämmerung erneut hinab zu den Höhlen. Er werde eine Laterne bringen, verspricht er. «Nach dem Abendgebet», fügt er noch an.

Es ist fast schon dunkel, als Bruder Leonhard mit der Laterne zurückkehrt. Plötzlich steht er da. Das Kamerateam schickt ihn nochmals zurück, um die Ankunft des «Deus ex machina» fürs Publikum einfangen zu können. «Vor 500 Jahren gab es zwar noch kein Kloster hier, aber Mariastein war bereits ein Wallfahrtsort», erklärt Bruder Leonhard gegenüber Horizonte. Und Geistliche gab es auch schon, die sich um die Pilger kümmerten», ergänzt Bruder Leonhard augenzwinkernd. Die geistliche Unterstützung passt ins Narrativ des Projekts.

Medienpräsenz ist für verkabelte Pilger gewöhnungsbedürftig

Kurze Zeit später brennt ein Feuer, über der die Suppe kocht. «Halt», ruft der Kameramann. «Nicht so schnell. Wir haben doch Stunden auf diesen Moment gewartet.» Zum Glück brodelt noch nicht das ganze Gemüse im Topf. Die Gruppe posiert beim Zubereiten des Nachtmahls. Etwas Salz, Öl, ein paar Kräuter, Wurst und Käse sorgen für einen überraschend angenehmen Geschmack.

Wie kommt die mit Mikrofonen verkabelte Pilgergruppe damit klar, dass sie über weite Strecken medial begleitet wird? «Wir sind noch nicht richtig in Fluss gekommen», meint Ralph Wicki am ersten Abend. An die Präsenz der Produktionscrew muss sich selbst der Radiomoderator erst noch gewöhnen. «Es ist schon viel für eine so kleine Gruppe wie wir.»

Publikum entscheidet per Online-Voting

Die ketzerische Frage drängt sich auf, wie sinnvoll es denn ist, Pilgern als Living History-Projekt zum Medienhappening zu machen, bei dem das Publikum per Online-Voting darüber entscheidet, ob die Pilgergruppe durch einen Fluss waten muss oder die Brücke nehmen darf.

Der Historiker Jan Müller findet solche Projekte grundsätzlich eine gute Sache. «Viele Menschen haben ein lebhaftes Interesse daran, zu erfahren, wie die Menschen früher gelebt und wie sie Krisen bewältigt haben», erklärt der Mittelalterexperte und Präsident des Vereins Burgenfreunde beider Basel. «Hinzu kommt: Wir Menschen lieben Geschichten. Geschichte muss also erzählt werden. Über diese Erzählungen können wir dann nach unserer Geschichte suchen und somit uns selbst verstehen und definieren. Living History-Projekte kommen diesem Bedürfnis entgegen, indem sie dramatisch aufbereitet und als Geschichte erzählt, solche Identifikations- und Diskussionsanlässe bieten.» Zudem gehe es bei Living History-Projekten eben nicht um Könige, Kaiser und Päpste, sondern um einfache Menschen und deren Alltag.

Inszenierte, nicht authentische Vergangenheit

Kritisch sei hingegen, dass Formate wie «Leben vor 500 Jahren – Auf Pilgerreise» aufgrund ihrer subjektiven Nachvollziehbarkeit dazu verleiten könnten, sie für objektiv wahr und eben authentisch zu halten», gibt Jan Müller zu bedenken. «Wir sollten nicht vergessen, dass es sich um eine bewusst konstruierte, eine aus der Sicht von heute inszenierte Vergangenheit handelt und nicht um eine authentische Vergangenheit.»

Nachdem Hape Kerkling mit seinem Bestseller «Ich bin dann mal weg» im Jahre 2006 eine neue Pilgerwelle losgetreten hat, surfen auf dieser mittlerweile auch die säkularen Medien. Parallel zur Entourage um Ralph Wicki ist auch Eddy Schambron, Redaktor der Aargauer Zeitung auf Wallfahrt. In sechs Teilen pilgert er für seine Leserschaft zu verschiedenen Andachtsstätten im Freiamt.

Pilgern als Ausdruck eines religiösen Bedürfnisses

Dass Pilgern mittlerweile auch für Mitmachformate herhalten darf, findet Christoph Wilden nicht weiter bedenklich. Im Gegenteil. Der stellvertretende Leiter der Ökumenischen Gemeinschaft Kloster Beinwil, am zweiten Pilgertag Gastgeber für die SRF-Truppe, sieht viel Positives: «Immer weniger Menschen gehen in Gottesdienste, die Bedeutung des Kirchlichen nimmt immer mehr ab. Aber mit dem Pilgern kommt eine Gegenbewegung, die ein religiöses Bedürfnis zum Ausdruck bringt.»

SRF-Projektleiterin Cathy Flaviano beeilt sich denn auch, gegenüber Horizonte den seriösen Charakter des Formats «Leben vor 500 Jahren» zu erklären. Man arbeite mit Historikern zusammen, habe die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt und wolle diese auch nicht vorführen. «Den religiösen Aspekt nehmen wir grossflächig ins Bild ins Bild: Mit Hintergrundberichten zum Thema Pilgern, aber auch systemimmanent: Zu Beginn ihrer Reise erhielt die Gruppe einen Segen, unterwegs kommen unsere Pilger immer wieder mit religiösen Orten in Berührung und mit Frowin Bachmann haben wir einen gläubigen Menschen in der Gruppe, der aufgrund seiner Karriere als Schweizergardist einen besonderen Bezug zur Thematik mitbringt.»

Frowin Bachmann: «Pilgern ist auch Gebet.»

De facto ist Frowin Bachmann, wie sich herausstellt, der einzige Teilnehmer in der Gruppe mit Wallfahrtserfahrung. Unter anderem auf dem Frankenweg, auf dem auch die ersten Schweizergardisten nach Rom gekommen seien, habe er bereits gepilgert. Das Projekt von Radio SRF 1 habe ihn sofort gereizt, erklärt der 52-Jährige. «Der Rhythmus des Laufens bringt dich automatisch zu dir selbst», so Frowin Bachmann. Nicht umsonst diskutiert die Pilgergruppe täglich über Lebensfragen wie den Aufbruch oder das Überwinden.

Pilgern, das sei aber auch, sich auf wenig zu beschränken, erklärt Frowin Bachmann. Die Idee, es den Menschen aus der Zeit um 1517 nachzumachen, trage zusätzlich dazu bei, auf all den Überfluss und die Konsumartikel zu verzichten, die man heute habe. «Pilgern ist aber auch Gebet. Das ist für mich sehr wichtig – genauso wie die Kirche. Das alles ist ein grosser Schatz und ich kann gar nicht verstehen, dass so viele Menschen die Augen davor verschliessen, meint der ehemalige Schweizergardist. Und schliesslich sei Pilgern auch Gemeinschaft. Das könne man am SRF-Projekt sehr schön sehen. «Sich für andere die Finger wund schlagen», erklärt er lachend in Anspielung an den misslungen Versuch, wie vor 500 Jahren Feuer zu machen und zeigt Pflaster und Verband an beiden Daumen.

Hildegard Aepli: «Pilgern bedeutet auch Schmerzen»

Tag für Tag ist die Gruppe um Ralph Wicki zwischen vier und acht Stunden unterwegs. Je nach Topografie sind es zwischen 13 und 30 Kilometer. Man habe sich an heutigen Durchschnittswanderzeiten orientiert, erklärt die SRF-Projektverantwortliche Cathy Flaviano. Bei der Routenwahl habe man sich auf alte Pilgerwege gestützt, wobei die Strecke auch über Schloss Neu-Bechburg oberhalb von Oensingen führen sollte, um die Pilger mit der Bauernfamilie des anderen Living History-Projekts von SRF, «Im Schatten der Burg», zusammenzuführen. Schloss Neu-Bechburg erreichen die Pilger heute Donnerstag und werden dort einen Tag verweilen, bevor es am Samstag weiter via Solothurn und Bern nach Fribourg geht.

Hildegard Aepli, die im vergangenen Jahr die Pilgerreise «Für eine Kirche mit den Frauen» von St. Gallen nach Rom anführte und bereits während 7 Monaten 4300 Kilometer nach Jerusalem pilgerte, darf mit Fug und Recht als zeitgenössische Expertin im Bereich Pilgern angesehen werden. Zwischen 22 und 36 Kilometer bewältigte Hildegard Aepli jeweils pro Tag mit ihren Begleiterinnen und Begleitern.

Auf Widrigkeiten angesprochen, nennt die St. Galler Pastoralassistentin körperliche Schmerzen, Spannungen in der Gruppe, brütende Hitze, aber auch Bedrohung durch bewaffnete Personen – ganz so, wie es wohl auch für die Pilger um 1507 der Fall gewesen sein dürfte. Im Gegensatz zu den historischen Pilgern von SRF nächtigt Hildegard Aepli beim Pilgern nie «wild», sondern immer in einer Unterkunft. «Ich habe mich auch stets geweigert, ein Zelt mitzunhmen», erklärt sie lachend. «Dafür fühle ich mich mittlerweile zu alt.»

Ein weiches Bett in Beinwil

Aber auch die SRF-Pilger müssen nicht jeden Abend unter freiem Himmel übernachten, wie der zweite Pilgertag in Beinwil zeigte. Ralph Wickis Pilgerschar wurde über Nacht von der Ökumenische Gemeinschaft Kloster Beinwil aufgenommen. «Bei uns durften sie in Einzelzimmern mit Bett übernachten und mussten kein Askese-Programm machen», erklärt Christoph Wilden. Nach den Strapazen des zweiten Tages bestimmt eine Erleichterung. «Die Pilger kamen am Dienstag erst gegen 21.30 Uhr und völlig durchnässt an», so Christoph Wilden.

Fürs Abendessen konnten sich die fünf Pilger dann mit an den Tisch in der Gemeinschaft setzen. Der Rahmen war vorgegeben: Kurze Gebetsimpulse und Mahlzeiten in Stille. Ganz so, wie es vor 500 Jahren wohl auch gehandhabt wurde. Kleine Pilgergruppen wurden gerne beherbergt, hoffte man doch, dass ein Teil der Gnade, den die Wallfahrenden erlangen würden, auf die Gastgeber abfiel.

«Beinwil ist heute kein klassisches Kloster mehr. Wir sind eine ökumenische Gemeinschaft auf monastischer Basis, bestehend aus Menschen, die ausserhalb der Klostermauern ihr Einkommen erwirtschaften», erklärt Christoph Wilden. Aus diesem Grund seien meist nur etwa zwei Personen vor Ort, weshalb man kein Sonderprogramm fahren könne. «Gleichwohl haben wir darauf geachtet, Dinge zu entfernen, die es vor 500 noch nicht gegeben hat», so Christoph Wilden. Also Kartoffeln oder Kaffee.

Marie-Therese Zgraggen: «Es geht um Grundbedürfnisse»

Noël Emmenegger wurmt es, dass es mit dem Feuermachen nicht geklappt hat. Gleichwohl geniesst er die Suppe. Er sei halt schon der Abenteurer, erklärt der 24-jährige Hettenschwiler am ersten Abend in Mariastein gegenüber Horizonte. Aus diesem Grund habe er sich auch beim SRF-Pilgerprojekt beworben. Um zu sehen, wie das war vor 500 Jahren. «Die dünnen Sohlen der mittelalterlichen Schuhe habe ich schon gespürt an den Fersen», meint er, kratzt sich und schüttelt sich den Dreck aus den Kleidern. «Wir sehen schon jetzt ziemlich dreckig aus», meint Marie-Therese Zgraggen. Und im Gepäck habe man für die insgesamt zwölf Tage nur ein Untergewand, zwei Unterhosen und zwei paar Socken als Reserve. «Ja, es geht uns primär um Grundbedürfnisse», erklärt die 63-jährige Frührentnerin und Kräuterspezialistin aus Altdorf. «Spiritualität ist zunächst einmal Nebensache», meint sie lachend und ergänzt: «Die von der Crew haben uns gesagt, wir sollen uns jeden Abend gut auf Zecken absuchen.»

 

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