08.02.2018

Radio liefert mehr als blosse Information

Von Anne Burgmer

  • Am 4. März entscheidet die Schweiz über die Beibehaltung der Radio- und Fernsehempfangsgebühren. Deren Abschaffung hätte wohl auch Konsequenzen für die Religionssendungen. Horizonte begleitete die Fachredaktion Religion von Schweizer Radio SRF bei der Arbeit.
  • Schweizer Radio und Fernsehen SRF produzieren unter dem Label «Sternstunden Religion» insgesamt elf verschiedene Religionssendungen. Sieben davon sind Radioproduktionen, die zwischen 60`000 und 260`000 Hörerinnen und Hörer erreichen.

 

Hoch über Basel im ruhigen Bruderholzquartier ist ein Teil des Radio SRF, genauer der Bereich Kultur, daheim. Hier arbeitet auch die Radio-Fachredaktion Religion. Am Empfang trifft Judith Wipfler auf Lukas Amstutz. Die reformierte Theologin ist die Team-Leiterin der Radio-Fachredaktion Religion. Der mennonitische Pastor will seine nächste Radiopredigt einsprechen. Judith Wipfler muss den Kopf in den Nacken legen, um den hochgewachsenen Mann zu begrüssen: «Schön bist du da». Lukas Amstutz lächelt.

Erst räuspern, dann sprechen

Ankunft im Studio: Als erstes fällt auf, wieviel Einfluss die Umgebung auf den Geräuschpegel hat. Das Studio ist so ausgekleidet, dass jedes Nebengeräusch geschluckt wird. Es geht um die Stimme, um nichts anderes. Lukas Amstutz nimmt vor einem Mikrofon Platz, breitet seine Blätter aus. Judith Wipfler geht in den Nebenraum. Dort: Ein hoher grosser Tisch, viele Bildschirme, noch mehr Knöpfe sowie Schieberegler, Mikrofone. Zettel hängen an den Wänden, «Achtung Aufnahme» steht in roten Buchstaben darauf. Eine grosse Glasscheibe gewährt Einblick und Durchblick in weitere Studios. Bevor Lukas Amstutz loslegt, ermutigt Judith Wipfler ihn: «Räuspere dich ruhig, huste ein paar Mal und dann startest du, wenn du bereit bist!» Einige Augenblicke später fängt Lukas Amstutz an und auf einem Bildschirm läuft sichtbar die digitale Aufnahme.

Leiseste Nebengeräusche stören

«Ein Mundgeräusch», sagt Judith Wipfler plötzlich und zeigt auf einen einzelnen roten senkrechten Strich in der Audiodatei auf dem Bildschirm. Judith Wipfler fährt mit dem Zeigefinger dem roten Balken auf einem Bildschirm entlang: Wo gesprochen wird, wölbt sich der Balken auf mehreren Zentimetern Länge oberhalb und unterhalb der Mitte aus. Wo geschwiegen wird, sieht man nur eine dünne Linie. Einzelne senkrechte Ausschläge, millimeterbreit, entlarven die Mundgeräusche. Die entstehen wenn der Sprechende seinen Mund öffnet und stören auf dem Sender; sie müssen später rausgeschnitten werden. Der Vergleich hinkt, doch es erinnert an das Prüfen eines Textes auf Rechtschreibung und Interpunktion, bevor man ihn abschickt.

«Je nach Eigenart der Sprechenden dauert das zwischen 15 und 20 Minuten», erklärt Judith Wipfler. Sie schaut konzentriert, rechnet nach. Acht bis zehn Minuten Radiopredigt seien das Ergebnis von rund zwei Stunden Arbeit, komplett von der Terminvereinbarung mit dem Sprecher bis zum Abspielen der Predigt im Radio. Zur Arbeit an einer Radiopredigt gehört auch, dass Judith Wipfler das Skript der Predigt vorher kritisch liest. «Ich «höre» beim Lesen bereits, ob der Text auch gesprochen funktioniert», erklärt Judith Wipfler, aus ihr sprechen 17 Jahre Erfahrung als Radioredaktorin. Während der Aufnahme springt sie plötzlich zur Tür und schaltet die Deckenlampe aus, das feine Summen lenkt sie ab.

Tagesaktueller Journalismus für die Ohren

Aufgezeichnete Radiopredigten sind das eine. Doch Radio ist auch ein tagesaktuelles Medium. Der Hauptanteil ihrer Arbeit besteht denn auch aus journalistischen Beiträgen, erklärt Judith Wipfler. Ein entscheidender Moment ist deshalb die tägliche, morgendliche «DeskSitzung». Im Angesicht eines grossen Bildschirms, der fortlaufend alle Radiosendungen zeigt, werden die Inhalte besprochen. Unter Leitung von Sandra Leis, die heute als Chefin vom Dienst auf Radio SRF 2 Kultur waltet, gehen die verschiedenen Fachredaktorinnen und Fachredaktoren ihre Themen durch. Das muss schnell gehen, in einer Viertelstunde müssen alle tagesaktuellen Themeninputs besprochen sein. Judith Wipfler gibt ein Beispiel: «Mitte Januar entschied die reformierte Synode in Zürich, dass alle reformierten Stadtzürcher Kirchgemeinden zu einer Kirchgemeinde Zürich zusammengehen sollen. Da musste ich dann abends rasch live in die Sendung von Kultur-Aktuell und das erklären».

An dem Morgen, an dem Lukas Amstutz zur Predigt kommt, geht Raphael Rauch für die Radio-Fachredaktion Religion an die «DeskSitzung». Raphael Rauch ist der Frischling im Team, seit April 2017 arbeitet der junge Theologe, Politologe und Journalist im Team von Judith Wipfler. Heute gibt es für die Fachredaktion Religion Radio SRF keine  speziellen Themen. Eilig geht es zur Redaktionssitzung ein Stockwerk höher. Aus dem Fenster sieht man in der Ferne das neue SBB-Gebäude direkt am Bahnhof. Drei Stockwerke wird SRF dort zur Miete beziehen.

Taugt ein Studio für die Hosentasche?

Am Tisch sitzen neben Teamleiterin Judith Wipfler noch Maya Brändli, Kathrin Ueltschi und Raphael Rauch. Sie gehen den Produktionsplan für die nächsten «Perspektiven»-Sendungen durch. Was für Themen kommen in Frage, wo lassen sich gute Originaltöne einfangen, können sich die Redaktorinnen und der Redaktor gegenseitig mit Audioschnipseln aushelfen? Die Zeit vergeht wie im Flug.

Zur zweiten Hälfte der Redaktionssitzung erscheinen weitere Mitarbeitende: Redaktorin Noemi Gradwohl und Tontechniker Lukas Unholz. Letzterer stellt dem Team ein neues Reporterwerkzeug für das Smartphone vor. Es ermöglicht Telefoninterviews in Studioqualität und entpuppt sich insgesamt als Studio für die Hosentasche. Die Anwesenden werfen sich skeptische Blicke zu, stellen kritische Rückfragen. Sie wollen überzeugt werden.

Ob an der «DeskSitzung», bei der Themenplanung oder während der kurzen Gespräche beim Dahineilen von A nach B: Hier arbeiten Menschen, die von «ihrem» Medium, dem Radio, zutiefst überzeugt und mit Feuereifer bei der Sache sind.

Information und mehr beim Wäscheglätten

Elf Sendungen insgesamt verantworten die «Sternstunden Religion» unter Leitung von Judith Hardegger. Sieben davon sind Radioproduktionen und kommen aus der ihr angegliederten Fachredaktion Religion Radio SRF unter Judith Wipflers Leitung. Neben Radiopredigt und Radiogottesdienst verantwortet sie wöchentlich die Sendungen «Ein Wort aus der Bibel», «Blickpunkt Religion», «Text zum Sonntag», «Perspektiven» und nicht zuletzt den «Zwischenhalt» auf Radio SRF 1, in dem die beliebten «Glocken der Heimat» erklingen.

Diese Sendungen liefern – unterschiedlich aufbereitet – vertiefende Hintergründe zu aktuellen Themen in Kirche und Gesellschaft. Das reicht von Berichterstattung über die Pastoralräume über die Heilige Verena und die Reformation bis hin zu herausfordernden Themen wie der «Segen für alle». Bei den Predigten wird auf eine gute Verteilung der Sprecherinnen und Sprecher auf die verschiedenen Konfessionen geachtet. Für jeden Geschmack ist etwas dabei, nicht nur inhaltlich, sondern auch vom Format her. Die eine Sendung kommt mit Musik und in Mundart daher, die andere beschränkt sich auf Moderation und Original-Töne. Was in einer Sendung nur kurz angerissen werden kann, findet Vertiefung zu einem späteren Zeitpunkt. Je nach Sendung werden 60`000 bis 260`000 Hörerinnen und Hörer erreicht.

Diese «glätten» beim Lauschen vielleicht Wäsche oder rüsten Gemüse, nehmen die Stimmen aus dem Äther mit auf eine lange Autofahrt oder das heimische Sofa. Radio geht fast immer und fast überall, denn kein Bild fordert Aufmerksamkeit. Gleichzeitig transportiert Radio mehr als Druckerschwärze: Es ist ein Unterschied, ob die Formulierungen einer burnout-betroffenen Pfarrerin in gedruckter Form vorliegen oder ob ihre bebende Stimme für jeden hörbar nach Worten tastet.

Sprecherinnen und Sprecher sind trotz Erfahrung noch nervös

Zurück ins Studio: Lukas Amstutz gehört seit fünf Jahren zum Radiopredigt-Team und vertritt die freikirchlichen Gemeinschaften. Er hat seine Predigt mittlerweile einmal gesprochen. Bei einem Wort stolperte er, setzte neu an. Auch das wird später geschnitten. Judith Wipfler, die hinter dem hohen, halbrunden Studiotisch steht, zieht einen Regler am Mischpult hoch. Jetzt kann sie der Pastor im Nebenraum hören. Judith Wipfler bittet ihn, die erste Seite seiner Predigt nochmals zu sprechen.

«Es hören rund 140`000 Menschen zu, selbst erfahrene Sprecher sind noch aufgeregt», erklärt die Redaktorin. Und tatsächlich: Beim zweiten Durchgang ist der Sprechfluss von Lukas Amstutz deutlich ruhiger und entspannter. Er erklärt die Unterschiede zur gewohnten Sonntagspredigt: «Ich habe keine direkte Reaktion vom Publikum. Das ist ungewohnt. Gleichzeitig bin ich sehr fokussiert auf mich und das, was ich sage». Judith Wipfler nickt. Dann begleitet sie Lukas Amstutz zum Empfang, rennt zwischendurch in die Cafeteria und organisiert ein Sandwich für ihn, denn er hat keine Zeit, vor dem nächsten Termin in Ruhe zu essen. Die Verabschiedung ist herzlich.

 

Die Geschichte vom Guten Hirten
Auf einem Tisch, vor verschiedenen Bibelausgaben, steht eine alte Holzfigur: Ein Guter Hirte, leicht lädiert. In Bad Zurzach stand dieser Jesus mit Schäflein um den Hals im Archiv der katholischen Pfarrei St. Verena; keiner wollte ihn. Doch Judith Wipfler war über eine Horizonte-Reportage auf ihn aufmerksam geworden und fand Gefallen an der Figur. Sie durfte sie mitnehmen und gab ihr ein neues Daheim im Radiostudio.

Dieser Beitrag von Judith Wipfler wurde gesendet am 31.12.2017 im Sylvesterprogramm von Radio SRF 2 Kultur, Moderation: Patricia Moreno.

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