01.11.2021

Interview zur Woche der Religionen
Reden und Zuhören – Balsam für die Seele

Von Anouk Hiedl, Tilmann Zuber

  • Jährlich zur Woche der Religionen (6.-14. November) erscheint die interreligiöse Zeitung «zVisite».
  • Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Thema «Das Wort in den Religionen».
  • Wer seine Not in Worte fasst, kann Frieden finden, mit sich, mit anderen und mit Gott. Ein Interview mit der Seelsorgerin Rita Inderbitzin und dem Psychotherapeuten Daniel Hell.

Was macht ein gutes Seelsorge­gespräch aus?
Rita Inderbitzin:
Wenn es etwas aus­löst und zum Positiven verändert. Das ist nicht immer sofort sichtbar. Manchmal braucht es längere Pro­zesse, damit Menschen auf ihrem Weg weiterkommen.
Daniel Hell: In der Psychotherapie ist es nicht anders. Eine gute Sitzung bringt das Problem zur Sprache. Wichtig ist, dass sich Patienten in ihrer Not und ihren Schwierigkei­ten verstanden fühlen. Ein Wort, das am Menschen vorbeizielt, hat keine Kraft. Diese entfaltet sich, wenn das Wort die Seele trifft. In der Psychotherapie geht es nicht wie bei einem Beinbruch um etwas, das mechanisch behandelt werden kann. Vielmehr muss das innere Erleben des Menschen zur Sprache kommen. Wenn dies gelingt, kön­nen die Patienten besser mit sich ins Reine kommen.

Das richtige Wort im richtigen Moment findet sich nicht immer.
Daniel Hell: Ja, so ist das. Worte kön­nen auch verletzen oder beschä­men, etwa wenn Therapeuten in Wunden wühlen oder von oben he­rab Ratschläge erteilen. Damit das Gespräch stimmig ist, sollten The­rapeutinnen spüren, was das Ge­genüber anzunehmen bereit ist. Der richtige Moment spielt eine Rolle. Wenn jemand tief gekränkt ist, nützt es nichts, Geschehenes zu relativieren. Letztlich ist das Ziel der Therapie, den Menschen zu stärken.

Rita Inderbitzin, Seelsorgerin in der Kirche im Hauptbahnhof Zürich. | Foto: Annette Boutellier
Rita Inderbitzin: Diese Ermutigung geschieht auch in der Seelsorge. Im Gespräch können die Hilfesuchen­den ihre Gedanken neu sortieren, das Erlebte und die Emotionen in Worte fassen. Sie können ihren Ge­danken freien Lauf lassen und neue Lösungsansätze entwickeln. Als rö­misch-­katholische Seelsorgerin ver­suche ich, Wege aufzuzeigen und Hoffnung zu vermitteln. Oftmals sagt ein Gegenüber am Schluss: «Danke, dass Sie mir zugehört und mich ernst genommen haben.»

Kann man sagen: Es ist eine Gna­de, wenn ein Gespräch gelingt und die Worte ankommen?
Rita Inderbitzin: Ja, manchmal stau­ne ich, was ein Gespräch auszulö­sen vermag.
Daniel Hell: Als junger Arzt hatte ich das Gefühl, ich müsse früh gu­te Ratschläge erteilen und Deutun­gen liefern. Dabei kommt es zu­allererst auf das Zuhören an. Das heisst: möglichst offen und empa­thisch zu sein, um den leidenden Mitmenschen besser zu verstehen. Das ermöglicht eine gezieltere Be­handlung. Wenn nach und nach ein tiefes Vertrauensverhältnis ent­steht, das zum Behandlungserfolg beiträgt, ist das ein Geschenk.

Den Schmerz in Worte fassen, kann heilend wirken. Was ist mit Heilung gemeint?
Daniel Hell:
Als Psychotherapeut spreche ich nicht von religiös kon­notierter Heilung, sondern davon, dass es Menschen wohler wird oder es ihnen gesundheitlich bes­ser geht. Diese Entwicklung wird erschwert, wenn jemand mit dem Geschehenen hadert oder über­fordert ist, sein Problem anzuneh­men. Überwindung braucht Einge­ständnis. Dazu ist aber oft Zeit und Geduld nötig.

Rita Inderbitzin: Im Christentum spricht man von Heil und bezeich­net Jesus als Heiland. So verstehe ich mich als Anwältin der christli­chen Hoffnung, dass Heilung mög­lich ist – wenn nicht jetzt, so doch als möglicher Lichtblick und Fern­ziel. Die Sehnsucht nach Heil ist oft spürbar. Das zeigt sich etwa, wenn mich manche nach dem Gespräch fragen, ob wir noch zusammen be­ten und ob ich ihnen einen Segen auf den Weg mitgeben könne.

Welche Rolle spielen die Gefühle bei Gesprächen?
Rita Inderbitzin:
Bei uns in der Bahn­hofkirche steht immer eine Schach­tel mit Papiertüchlein, die rege ge­braucht werden. Tränen und Trauer haben in der Seelsorge ihren Platz und ihre Zeit, genauso wie Freude und Lachen.

Daniel Hell, Psychiater, Psychotherapeut und emeritierter Professor für Klinische Psychiatrie, in der Klinik Hohenegg. | Foto: Annette Boutellier
Daniel Hell: Gefühle sind sehr wich­tig. Bei Depressionen etwa können Menschen nicht mehr intensiv füh­len. Es ist nicht die grosse Traurig­keit, die belastet, wie viele fälsch­licherweise glauben, sondern der Verlust von Gefühlen. Schwer de­pressive Menschen können nicht mehr weinen und wären froh, wür­den die Tränen wieder fliessen. Ge­fühle sind in dieser depressiven Leere wie Inseln. In der Therapie sind diese Inseln wichtig. Sie sollen nicht verringert, sondern akzep­tiert werden.

Der Beichtstuhl wird immer seltener besucht. Wie suchen Men­schen heute nach Versöhnung mit Gott, mit sich und anderen?
Rita Inderbitzin:
Das Gebet, die Ver­söhnungsbitte, das Anzünden einer Kerze und das Kreuzzeichen sind Rituale, die helfen und erleichtern. Aber auch die Beichte ist nach wie vor gefragt. Andere bevorzugen ein Seelsorgegespräch, manche auch eines von Frau zu Frau.

Dürfen auch Andersgläubige zur Beichte kommen?
Rita Inderbitzin:
Die Beichte ist ein Sakrament. Die Absolution, das Lossprechen von Sünden, ist ans Priesteramt gebunden. Es kommt vor, dass etwa Reformierte danach fragen. Viele Priester sind dem ge­genüber offen. Wir haben in der Bahnhofkirche allerdings keine Priester. Wir bieten an, zum Ab­schluss zu beten oder um Versöh­nung zu bitten.

Welchen Stellenwert hat Verge­bung in der Psychotherapie?
Daniel Hell:
Die Vergebung von Schuld ist ein religiöses Konzept. Die Psychotherapie versucht, Men­schen, die sich erniedrigt, gekränkt oder beschämt fühlen, aus ihrer Verletzung, Verbitterung und ihren Rachegefühlen herauszuführen, so dass sie Frieden mit sich finden. Da steht das eigene Wohlbefinden im Vordergrund.

Rita Inderbitzin: Wenn wir ande­re um Vergebung bitten, geschieht dies im Vertrauen, dass Gott da ist, uns gerne hat und uns vergibt, egal welchen Mist wir angestellt haben. Er öffnet uns so die Chance, den Weg weiterzugehen. Am Schluss eines Seelsorgegesprächs ermuti­ge ich die Ratsuchenden häufig, mit Freude ins Leben zu gehen, im Ver­trauen darauf, dass sie von Gott an­genommen sind.

Daniel Hell: Man muss zwischen Schuld und Schuldgefühlen unter­scheiden. Bei der Beichte geht es um Schuld, die man abladen möchte, in der Psychotherapie um Schuld­gefühle, hinter denen manchmal keine Schuld steht. Sigmund Freud verstand Schuldgefühle weitge­hend als neurotisches Problem.

Wünschen Sie sich manchmal, Menschen von ihrer Schuld losspre­chen zu können?
Daniel Hell:
Das steht mir nicht zu. Ich bin weder Priester noch Rich­ter. Aber in einer Therapie werden Wege gesucht, Schuld abzutragen.

Mit wem soll man bei Problemen reden: mit dem Psychotherapeuten, der Seelsorgerin oder mit dem Beichtvater?
Daniel Hell: Vieles, das man früher im religiösen Kontext sah, steht heute in einem säkularen Licht. Menschen suchen heute eher eine Psychotherapeutin als einen Seel­sorger auf. Die Moderne hat aber auch zu einer Verschiebung der Probleme beigetragen: weg von Schuld, hin zu Kränkung und seeli­scher Verletztheit. Sowohl Psychotherapie als auch Seelsorge haben ihren Wert. Erstere fokussiert auf das Geschehen zwischen den Men­schen, während Letztere auch den Bezug zu Gott einschliesst.

Rita Inderbitzin: Ich erlebe immer wieder, dass Menschen spontan in die Bahnhofkirche kommen, um ih­re Gedanken zu ordnen oder etwas abzuladen. Bei uns braucht man sich nicht anzumelden, und man bleibt anonym.

Welche Vergehen und Fehler verge­ben Sie persönlich am leichtesten?
Daniel Hell: Alltägliche. Ignoranz, Missachtung und böswillige Be­merkungen treffen mich zwar, aber ich kann sie entschuldigen.

Rita Inderbitzin: Bei mir ist es ähn­lich. Wenn mich etwa ein Lastwa­gen haarscharf überholt, fluche ich zunächst, schicke ihm aber nach­her einen Segen hinterher, damit er heil ankommt. In schwierigen Situationen braucht Vergebung je­doch Zeit, Raum und Offenheit. Mir selber fällt es leichter, zu vergeben, anstatt schlechte Gefühle herumzu­tragen.

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