23.07.2020

Schausteller-Pfarrer schlägt Alarm: Die Chilbi stirbt!

Von Andreas C. Müller

  • Mit der Absage der Basler Herbstmesse und weiterer Chilbiveranstaltungen im zweiten Halbjahr hat sich die Situation für Schausteller und Marktfahrende nochmals erheblich verschlechtert.
  • Adi Bolzern ist Schausteller- und Markthändlerseelsorger. Angesichts der Einschränkungen für Massenveranstaltungen infolge der Corona-Pandemie spricht er von der «schlimmsten Situation», in der sich die Branche je befunden habe.
  • Unter Schaustellern ist man sich einig: «Es braucht jetzt Hilfe vom Bund, sonst geht es nicht mehr.» Für August ist eine grosse Demonstration in Bern geplant.

 

Eine Dachwohnung irgendwo in Aarau: Anstatt dass Maya Hauri irgendwo auf Kirmesplätzen nach dem Rechten sieht, hockt sie mit Circus-, Schausteller- und Markthändlerseelsorger Adi Bolzern bei sich zuhause am Tisch und zündet eine Zigarette an. Neben ihr auf dem Tisch lässt sie ein Karussellmodell laufen. Lichter funkeln, Musik trällert. Die Schaustellerin seufzt: «Wer hätte gedacht, dass uns einmal eine Pandemie trifft. Noch vor einem Jahr habe ich mit 150 Personen mein 40-Jahr-Jubiläum als Schaustellerin gefeiert.»

Maya Hauri: «Habe noch immer keine Perspektive»

Die 63-jährige Volksmusikliebhaberin, die Grössen wie Andreas Gabalier persönlich kennt, gilt im Aargau als «Grande Dame der Schaustellerei». Für gut 70 Prozent aller Chilbis und Jugendfeste im Kanton vergibt Maya Hauri die Plätze an die Schausteller, unter anderem für das Argovia-Fest, den Aarauer Maienzug, den MAG, das Lenzburger Jugendfest. Zudem besitzt die gewiefte Unternehmerin verschiedene Fahrgeschäfte, unter anderem drei historische Karusselle und einen Autoscooter.

Seit Mitte März sitzt Maya Hauri zuhause – zur Untätigkeit verdammt –, wegen des Coronavirus‘. «Da kann einem schon die Decke auf den Kopf fallen», meint sie und nimmt ihr Hündchen Kitty auf den Arm. «Wenn ich denke, wie die Wirte gejammert haben, weil sie zwei Monate schliessen mussten. Wir haben noch immer keine Perspektive, um unsere Arbeit wieder aufzunehmen.»

Jüngste Hiobsbotschaft war die Absage der Basler Herbstmesse. Von einem neuerlichen «harten Schlag für alle Schausteller-Unternehmen» spricht die langjährige Marktfahrerin und meint: «Jetzt muss wirklich etwas unternommen werden. So kann es nicht weitergehen.»

Demonstration im August geplant

Maya Hauri hofft auf Unterstützung vom Bund. Hierfür wolle das Gewerbe im August auf dem Bundesplatz in Bern demonstrieren, lässt Peter Howald, am Telefon zugeschaltet, durchblicken – er ist Präsident des Schaustellerverbandes Schweiz (SVS). Es seien die hohen Fixkosten, unter denen die Schausteller zusätzlich zum Erwerbsausfall besonders litten: Lagerhallen für abgestellte Fahrgeschäfte kosteten hohe Mieten – zwischen 2’000 und 30’000 Franken im Monat.

Ihr grösster Wunsch sei es, dass bald alles wieder so sei wie früher, meint Maya Hauri. Aber das dürfte wohl erst geschehen, wenn ein Impfstoff gegen das neue Virus gefunden wird, fürchtet die Schaustellerin. Zwar könnten aktuell in einzelnen Kantonen wieder Veranstaltungen für bis zu 1’000 Personen stattfinden, «aber wer will schon an eine Chilbi, wenn im Rahmen eines Schutzkonzepts Besucherkontingente und Aufenthaltszeitlimiten gelten wie aktuell in den Schwimmbädern.» Ferner müssten die Kirmesbesucher Abstandsregeln einhalten und auf einem Fahrgeschäft eine Maske tragen – ganz zu schweigen davon, dass Passagiere warten müssen, bis sämtliche Sitzflächen und Haltegriffe nach einer Fahrt desinfiziert wurden.

Adi Bolzern: «Die Schausteller haben keine Lobby»

Adrian Bolzern ist katholischer Priester und Circus-, Schausteller- und Markthändlerseelsorger. Nachdenklich meint er: «Die aktuelle Situation ist wohl die schlimmste, die es für Schausteller seit Jahrzehnten je gegeben hat.» Der 41-Jährige steht mit den meisten der Schaustellerfamilien in der Deutschschweiz in regelmässigem Kontakt und beobachtet aktuell viel Unruhe und Hilflosigkeit. «Die Schausteller sind verunsichert. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Ob sich in diesem Jahr noch Möglichkeiten eröffnen, «zu spielen», wie es in der Schaustellersprache heisst? Oder ob man sich für eine andere Arbeit verpflichten soll?

Nicht selten hört der Seelsorger gegenwärtig von manchen Sorgen. «Das Schlimme ist, als Seelsorger kannst du nicht direkt helfen», sagt er. «Du kannst Besuche machen, zuhören, trösten.» Seine Philipp Neri-Stiftung kann punktuell finanzielle Unterstützung leisten – zur Überbrückung oder für eine einmalige Sache, wenn beispielsweise das Auto kaputt gegangen ist. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie gehe es aber für viele um Existenzerhaltung – aufgrund von hohen Ausfällen. «Da ist der Bund gefordert», meint auch Adi Bolzern. Dieser müsse helfen, so, wie er andere Branchen unterstützt habe. Aber: «Es besteht in der Tat die Gefahr, dass die Schausteller vergessen gehen», denn: «Diese Leute haben keine Lobby wie andere Branchen.»

Franz Schuler: «Glück, dass ich noch einen anderen Job habe»

Adi Bolzern ist häufig zu Besuch bei Maya Hauri. Religion spielt für die Schaustellerin eine grosse Rolle. Ihr Stiefvater sei streng katholisch gewesen, der wöchentliche Kirchgang war selbstverständlich. Die gebürtige Aargauerin, die über ihren mittlerweile verstorbenen Mann zur Schaustellerei kam, ist ihrem Glauben treu geblieben und hat vor bald 15 Jahren zum ersten Mal auf ihrem Autoscooter einen Gottesdienst für Schausteller feiern lassen. Im Laufe der Jahre erlangte dieser ähnlich grosse Popularität wie der Zirkusgottesdienst in Luzern.

Auch in Brunegg bleiben die Fahrgeschäfte parkiert. Franz und Daniela Schuler besitzen einen der grösseren Schaustellerbetriebe im Aargau. Die meisten kennen die Schulers wegen ihres Flagschiffbetriebs Scorpion. Auf jedem grösseren Chilbiplatz der Deutschschweiz hat dieses Action-Gefährt mittlerweile seinen festen Platz – auch an der Basler Herbstmesse.

Gewöhnlich ist Franz Schuler mit seinen Leuten von März bis Dezember an 30 bis 40 Wochenenden im Jahr auf den Rummelplätzen. Aktuell ruhen seine Fahrgeschäfte aber auf einem Platz in Mägenwil. Dank einem guten Geschäftsjahr 2019 bedroht die Corona-Pandemie die Schulers zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht existenziell. Franz Schuler hatte zudem noch Glück, dass er als Lastwagenfahrer arbeiten kann, bis «es» wieder los geht.

 Millionenteure Fahrgeschäfte sind nichts mehr wert

«Wäre die Krise letztes Jahr gekommen, dann hätte ich verkaufen müssen», sagt er und erklärt: «Viele, die zurzeit mit dem Rücken zur Wand stehen, haben das Pech, dass sie nicht einmal ihre Fahrgeschäfte verkaufen können – diese sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts wert, weil in Anbetracht der aktuellen Situation doch niemand ins Schaustellergewerbe investieren möchte.» Ein Fahrgeschäft kostet neu zwischen einer und drei Millionen Franken – als Occasion immer noch einen höheren sechsstelligen Betrag.

Dass die Basler Herbstmesse  und die «Lozärner Määs» abgesagt wurden, dürfte für manchen Schaustellerbetrieb den Todesstoss bedeuten, ist Daniela Schuler sicher. Gewöhnlich streiten die Schausteller für einen Platz am Rheinknie erbittert um Standplätze, was zeigt, welche Bedeutung der Anlass für die Branche hat.

Hoffen auf Bundesgeld

Auch wenn die Aussichten im Moment sehr schlecht sind: Seelsorger Adi Bolzern ist überzeugt: «Schausteller sind Überlebenskünstler. Das, was die Schausteller aktuell erleben, würde wohl keine andere Branche überleben.» Im Moment dominiert jedoch die Unsicherheit: «Zwar dürfen wieder Veranstaltungen für 1’000 Personen stattfinden», so Daniela Schuler, «wir könnten also auch wieder selber Volksfeste organisieren, aber keine Gemeinde gibt uns eine Bewilligung. Die haben alle Angst.»

Seelsorger Adi Bolzern ist sich sicher: «Spätestens im kommenden Jahr werden wir bei der Philip Neri-Stiftung viele Gesuche um Unterstützung erhalten – und trotzdem niemanden retten können.» Auf die Frage, wie viele Schausteller die gegenwärtige Krise in den Bankrott treiben wird, meint Maya Hauri sinnbildlich für den Kampfgeist der Branche: «Ich hoffe immer, dass es alle schaffen und sich über Wasser halten können. Und ich hoffe sehr, dass der Bund uns unter die Arme greift. Für eine Airline, die nicht einmal mehr uns gehört, gibt’s Milliarden. Da muss es doch auch etwas für uns geben.»

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