17.08.2015

«Wir müssen zeigen, was uns auszeichnet»

Von Andreas C. Müller

Die Spital- und Heimseelsorge gerät aus zwei Richtungen in Bedrängnis. Die Sterbehilfe-Organisationen bringen viele Mitarbeitende in einen Gewissenskonflikt, weiter droht dasselbe Schicksal wie dem Religionsunterricht, der aus den Schulen verdrängt wurde. Unter dem Sammelbegriff «Spiritual Care» sollen Psychologen und anderes Fachpersonal die Aufgaben der Seelsorgenden in Spitälern und Pflegeheimen übernehmen. Hans Niggeli, Leiter Spitalseelsorge der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau, erklärt, was Spital- und Heimseelsorge auszeichnet und wie man den genannten Herausforderungen begegnen will.

Herr Niggeli, wenn in einem Aargauer Spital oder einem Pflegeheim jemand mit Exit sterben will, und diese Person wünscht sich, dass der Seelsorger ihn auf diesem Weg begleitet, wie reagiert dann Ihr Personal?
Hans Niggeli:
Ein solcher ausdrücklicher Wunsch ist äusserst selten, viel häufiger ist das Thema, sterben zu wollen und auch mit Exit zu sterben. Obgleich es das durchaus schon gab. Sogar mit der Bitte, für den begleiteten Suizid den Segen zu geben. Das brachte den Seelsorger in ein Dilemma.

Wie darf ich das verstehen?
Als Seelsorgende begleiten wir die Menschen und sind für sie da, gerade auch in den schwierigen und unerträglichen Situationen… und machen damit den unsichtbaren Gott vielleicht etwas erfahrbarer. Und auf der anderen Seite sollen wir den Segen geben für eine Handlung, die wir nicht gut heissen. Es gibt Seelsorgende, die mir gesagt haben, dass sie nicht wissen, ob sie ihre Arbeit noch weiter führen könnten, wenn Sterbehilfe-Organisationen zu jener Institution Zugang erhalten, in der sie tätig sind.

Aber hiesse das nicht, sich der Problematik zu entziehen?
Wir haben ein offenes Ohr für alle Überlegungen, Ängste und Nöte der Menschen, die sich an uns wenden. Wir helfen ihnen, noch nicht Bedachtes und auch nicht Ausgesprochenes in den Blick zu nehmen und in Worte zu fassen, suchen auch nach dem, was hinter dem Suizid- und Sterbewunsch steht. Ich persönlich bitte oft mit dem betreffenden Menschen um den Segen Gottes für seine schwierige Situation. Was ich allerdings kaum tun würde ist, jemandem den Segen für den Suizid zu geben.

Ist das nicht immer noch diese reaktionäre Schiene, die bis vor ein paar Jahrzehnten all jenen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – das Leben nahmen, ein kirchliches Begräbnis verweigert hat?
Auf jeden Fall geben wir, auch durch Suizid Verstorbenen, den Sterbesegen, wenn es von den Angehörigen gewünscht wird.

Aber warum haben manche Mitarbeitende der Spitalseelsorge so Mühe mit begleiteten Suiziden durch Sterbehilfe-Organisationen?
Auf der einen Seite steht: Als Seelsorger habe ich zur Suizidbeihilfe ein sehr kritisches Verhältnis. Auf der andern Seite respektiere und achte ich die Glaubens- und Gewissens- und Entscheidungsfreiheit auch jener Menschen, die sich in diesen extrem belastenden Situationen dazu entscheiden. Als Christ vertraue ich mich Gott an. «Dein Wille geschehe…», beten wir doch. Also sollte ich mich dem überlassen können, was beim Sterben passiert. Und darauf vertrauen, dass ich nicht allein bin. Gott, der am Anfang des Leben gesagt hat: «Ich bin für dich da», der ist auch am Ende des Lebens da. Letztlich aber entscheidet jeder Mensch selbst, inwieweit er das glauben und darauf vertrauen kann. Und das müssen wir akzeptieren.

Das heisst: Das Dilemma für Ihre Mitarbeitenden zeigt sich im Umgang mit Menschen, die nicht ausreichend Zugang zu Gott finden, denen es an Vertrauen in ein von Gott getragenes Sterben fehlt und darum ihr Sterben in die eigene Hand nehmen wollen.
Nicht nur. Gewiss: Der Mainstream geht in Richtung Autonomie und Selbstbestimmung. Das hat einen hohen Stellenwert bekommen. Hinzu kommt aber auch, dass sich mit diesem neuen Trend auch ein indirekter sozialer Druck für jene Menschen aufbaut, die das nicht teilen.

Wie meinen Sie das?
Immer öfter sagen heute ältere Menschen: Ich will doch niemandem mehr zur Last fallen. Oder: Ich will doch meinen Nachkommen noch etwas vererben…

Und erwägen aufgrund dieser Überlegungen den begleiteten Suizid?
Ja.

Aber das ist dann doch die Haltung dieser Menschen. Was hat das mit Druck zu tun?
Einerseits gilt es genau das sorgsam im Gespräch mit dem Betreffenden herauszufinden, woher diese Haltung kommt. Ist es das, was man aufgrund der öffentlichen Meinung zu tun hat, oder ist es die ganz eigene Überzeugung. Auf der anderen Seite erlebe ich klar Druck, wenn mir ein Seelsorger berichtet, dass er von Angehörigen gebeten worden sei, mit dem Vater über Exit zu reden. Hier wird auch deutlich, dass Selbstbestimmung nie absolut ist, sondern immer in Wechselwirkung mit meinem Umfeld und den gesellschaftlichen Trends steht.

Das ist doch bestimmt ein Einzelfall und könnte vielleicht auch dem Wunsch entspringen, jemandem möglichst ein qualvolles Sterben zu ersparen.
Ich versuche in den Gesprächen, die den begleiteten Suizid aufs Tapet bringen, herauszufinden, was dahinter steht. Oft sind es Ängste. Angst vor Schmerzen, Angst, sich auszuliefern, Angst, eine Last zu sein, zu viele Kosten zu verursachen… Es ist ja nicht der Tod, den man sucht, sondern es geht um andere Dinge, um persönlich Belastendes. Dann frage ich: Wenn das jetzt nicht der Fall wäre, würden Sie dann diesen Weg wählen, den Sie in Betracht ziehen? Und dann auch: Inwieweit können Sie sich Gott anvertrauen und sagen: Dein Wille geschehe. Erstaunlich ist, dass viele Menschen dann sagen: Dieses Vertrauen möchte ich eigentlich haben, diesen Glauben….

Ich denke, das braucht eine grosse Sensibilität und hat bestimmt Konsequenzen bei der Personalauswahl. Bei der grossen Bandbreite, die heutzutage den Katholizismus ausmacht, sind Sie möglicherweise mit konservativ eingestellten Menschen als Seelsorgende in Spitälern und Heimen nicht gut beraten.
Das ist richtig. Es braucht eine gute Verwurzelung im Glauben. Keinen dogmatischen Glauben, sondern einen im Leben integrierten Glauben. Auf alles, womit ich in meiner Aufgabe als Spitalseelsorger konfrontiert werde, darf ich nicht dogmatisch reagieren. Ich muss mich einlassen können, muss begleiten können.

Gibt es eigentlich Richtlinien für Ihre Mitarbeitenden in solchen Fällen?
Richtlinien für den Umgang mit Menschen, die den begleiteten Suizid wünschen, haben wir nicht. Da ist es jedem Mitarbeitenden persönlich überlassen, wie er damit umgeht, wie weit er sich einlassen und die betreffenden Personen begleiten kann. Wichtig aber sind Orte, wo wir uns austauschen und darüber sprechen können. 2011 fand zum Thema Begleiteter Suizid eine Fachtagung der Spitalseelsorgevereinigung statt. Daraus hervor ging ein Positionspapier, das als Grundlage nach wie vor gilt.

Und an was genau sollen sich Ihre Mitarbeitenden orientieren?
Im Wesentlichen gilt, dass ein begleiteter Suizid nicht wünschbar ist, weil er den natürlichen Prozess des Sterbens unterbricht. Aber gleichzeitig sollen wir uns auch dem Gespräch über den Wunsch nach einem begleiteten Suizid nicht entziehen. Menschen, die sich dazu entschlossen haben, werden von uns nicht einfach alleingelassen. Wir müssen schauen, dass wir dabei bleiben… mit Blick darauf, was uns auszeichnet. In vielen Fällen, in denen Patienten mit uns über ihren Wunsch oder auch Entschluss sprechen können, wird der Suizid nicht realisiert.

Der Spital- und Heimseelsorge droht dasselbe Schicksal wie dem konfessionellen Religionsunterricht. Nämlich, dass sie zugunsten einer konfessionsneutralen «Spiritual Care» verdrängt wird. Was bedeutet das für ihre ohnehin schon anspruchsvolle Arbeit im Brennpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wie der Diskussion um die Sterbehilfe?
Der Legitimationsdruck wird steigen, das stimmt. Bereits jetzt gibt es in Spitälern Situationen, wo wir merken, dass der Respekt und auch das Verständnis für unsere Arbeit manchmal fehlt. Da gibt es Pflegende, die, während wir noch im Gespräch mit den Patienten sind, einfach ins Zimmer kommen und ihre Arbeit beginnen. Umso mehr müssen wir zeigen, was Seelsorge macht und was uns auszeichnet. Nicht nur gegenüber Pflegenden und Ärzten sondern auch gegenüber Spitalleitungen, die oft weit weg von Kirche und Seelsorge sind.

Und was genau zeichnet euch aus?
In allen Situation des Übergangs braucht es Hilfe und Deutungen, damit solche Situationen gemeistert werden können. Das betrifft auch eine schwere Erkrankung, ein Unfall oder der bevorstehende Tod. Es gibt niemanden, den so etwas nicht durchrüttelt… Da sind wir gefragt, zuzuhören, damit sich die Betroffenen mitteilen können. Wie sind diejenigen, die mitgehen, die Hilfestellung geben, damit der Betroffene sein Schicksal integrieren, damit umgehen kann.

Entschuldigung, aber jetzt klingen Sie wie ein Psychologe…
Im Gegensatz zu Psychologen sehen wir Krankheit und Leiden, Leben,Tod und Sterben in einem ganzheitlichen Zusammenhang und in einem spirituellen Kontext. Wir stehen in einer reflektierten Beziehung zum eigenen christlichen Glauben. woher wir kommen und für was wir stehen. Psychologen vertreten oft eine implizite Religiosität…

Sie meinen eine zunehmende Vermischung von akademischer Professionalität mit esoterischem Gedankengut, religiösen Verquickungen, fernöstlicher Philosophie und allgemeiner Spiritualität?
Unter dem Begriff «Spiritual Care» wird heute etwas verkauft, das auch ideologisch behaftet ist. Nicht alles, was unter den Modebegriff Spiritualität fällt, ist auch hilfreich. Was wir brauchen, ist eine lebensfördernde, ermutigende und befreiende Spiritualität, die auch Leiden, Scheitern und Schuldig werden nicht bagatellisiert oder ausschliesst.
Eine jeder Arzt, jede Pflegende kann im Grunde «Spiritual Care» machen und tut es hoffentlich… «Spiritual Care» meint für mich, dass man sich um die seelischen Bedürfnisse der Menschen kümmert, sie ernst nimmt. Seelsorge leistet darüber hinaus aber noch mehr. Beispielsweise, indem wir mit den Menschen beten. So tragen wir die Dinge, die belastend sind, vor Gott… im Gebet, in der Segensbitte…. Ich erlebe immer wieder, welch lösende und befreiende Wirkung dieser Schritt entfalten kann. Das bedingt allerdings von Seiten des Seelsorgers eine reflektierte Spiritualität, die nicht einfach Menschen vereinnahmt.

Wie meinen Sie das? Sie vertreten doch auch etwas?
Wenn ich beispielsweise das Mitglied einer Freikirche seelsorgerisch begleite, dann versuche ich, mich auf diesen Menschen genau einzulassen und einen Weg zu finden, den dieser Mensch gehen kann. Dasselbe gilt für jene, die mit Kirche nichts am Hut haben wollen….. Das schaffe ich aber nur, wenn ich meinen eigenen Standpunkt genau kenne.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Was erwartet die Spital- und Heimseelsorge in Zukunft?
In den nächsten fünf bis zehn Jahren erwarte ich noch keine grosse Zunahme an begleiteten Suiziden. Das werden zunächst Einzelfälle bleiben. Aktuell kommt das in Institutionen, zu denen schon heute Sterbehilfe-Organisation Zugang haben, etwa ein bis zweimal pro Jahr vor. Es wird aber zunehmen. Besonders, wenn der gesellschaftliche Trend mehr in diese Richtung geht. Dann lässt sich schwer abschätzen, wo wir in ein paar Jahren stehen.

Was für unmittelbare Herausforderungen stehen an?
Da ist unser Engagement im Bereich Palliativpflege, wo wir eng mit den Reformierten zusammenarbeiten. Gerade weil der Kanton nicht investieren kann, bekommt hier das Engagement der Kirchen eine grosse Bedeutung, indem es einem wachsenden Bedürfnis entgegenkommt.

Und weiter?
Mit Sicherheit das Ausarbeiten von Standards für das, was Seelsorge ausmacht. Da sind wir jetzt dran…. Insbesondere auch in Anbetracht der Diskussion über die mögliche Zulassung von Seelsorgepersonal aus anderen Religionsgemeinschaften. Diese Standards werden die Grundlage sein für Zusammenarbeitsverträge zwischen den Institutionen und den Landeskirchen.

Wo knüpfen Sie da an?
Gesamtschweizerisch ist ein ökumenisches Positionspapier erarbeitet worden. Aus diesem haben wir «ökumenische Standards für die Seelsorge in Institutionen» erarbeitet, die im August dieses Jahres in den Kirchenräten bearbeitet werden.

Wird die Spital- und Heimseelsorge in fünf bis zehn Jahren immer noch gefragt sein?
Grundsätzlich wird die Seelsorge in allen Institutionen, in denen Seelsorgende der Römisch-Katholischen Landeskirche tätig sind, sehr geschätzt. Das sind immerhin über zwanzig Institutionen mit etwa fünfzehn Seelsorgenden und total etwa 1200 Stellenprozenten. Der grosse Rückhalt, den wir in diesen Institutionen haben, wird nicht wegbrechen. Im Heimbereich gibt es sogar Verantwortliche, die angeboten haben, die Seelsorge mitzufinanzieren, weil sie aus eigener Erfahrung um die Bedeutung unserer Arbeit für die Menschen wissen.

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