23.04.2015

Vor hundert Jahren - und leider auch heute

Von Marie-Christine Andres Schürch

Von Bremgarten bis Zuzgen läuten morgen Freitagabend, 24. April, um 19 Uhr für fünf Minuten die Kirchenglocken. Es ist ein Zeichen der Solidarität zum 100. Gedenktag des Völkermordes an den Armeniern, aber auch für all die Christen, die heute wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (AGCK) in der Schweiz hat ihre Mitgliedskirchen zu Gedenkgottesdiensten und zum gemeinsamen Glockengeläut aufgerufen.

Am Freitag, 24. April 2015 jährt sich zum hundertsten Mal der Beginn des Völkermordes an den Armeniern. Der 24. April 1915 gilt als der Tag, an dem im Osmanischen Reich die Deportationen und Massaker an der armenischen Minderheit ihren Anfang nahmen. Die junge türkische Regierung liess über 200 armenische Intellektuelle, Politiker und Geistliche in Istanbul, damals noch Konstantinopel, festnehmen und grösstenteils töten. In den Jahren 1915/16 folgten Massaker und Deportationen in die nordsyrische Wüste. Unzählige Armenier, die die Todesmärsche überlebten, starben an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten schätzungsweise mehr als zwei Millionen Armenier im Gebiet der heutigen Türkei gelebt, heute leben dort noch 50’000 bis 60’000 Menschen dieser christlichen Minderheit. Die Säuberungsaktionen der jungtürkischen Regierung trafen nicht nur die Armenier, sondern auch Assyrer und Aramäer, ebenfalls Christen, sowie die Minderheit der Griechen. 1915/16 sollen Studien zufolge bis zu eineinhalb Millionen Armenier ums Leben gekommen sein. Das Verbrechen an den Armeniern gilt heute als erster organisierter Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Christen sind die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft
Zum 100. Gedenktag des Genozids an den Armeniern rief die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (AGCK) in der Schweiz ihre Mitgliedskirchen dazu auf, der Opfer des armenischen Völkermordes und ihrer Angehörigen besonders im Gebet zu gedenken und schlägt dafür den jeweiligen Sonntagsgottesdienst vom 26. April vor. Ausserdem bittet die AGCK die Kirchgemeinden, dem Wunsch der Armenisch Apostolischen Kirche der Schweiz zu entsprechen und am Freitagabend, den 24. April, um 19 Uhr, während fünf Minuten die Glocken ihrer Kirchen als Zeichen des Mitgefühls zu läuten. Laut dem christkatholischen Bischof Harald Rein, derzeitiger Präsident der AGCK, will die Arbeitsgemeinschaft dem Gedenken an den Genozid viel Raum geben. Einerseits weil der Genozid und die damit einhergehende Zwangsislamisierung vor hundert Jahren bis heute theologische, soziale, politische und psychologische Folgen habe, andererseits weil die Christen auch heute noch die weltweit am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft sind. In einem Interview mit Radio SRF2 am Sonntag, 19. April 2015 betonte Harald Rein, dass die Kirche und die Politik Europas zu den aktuellen Christenverfolgungen im Nahen Osten nicht schweigen dürfe. Ebenso erklärte er, dass er es sehr bedauerlich finde, dass sich der Schweizer Bundesrat nicht dazu durchringen kann, den Völkermord an den Armeniern öffentlich anzuerkennen – aus falscher Rücksicht auf die Türkei, wie er findet. So gesehen solle der Gedenktag auch Appell an die politische Schweiz sein.

Schmerz auch nach hundert Jahren
Die Armenier sehen in den Geschehnissen der Jahre 1915/16 ein ungesühntes Unrecht und fordern seit Jahrzehnten ein angemessenes Gedenken auch in der Türkei. Dagegen bestreiten die offizielle türkische Geschichtsschreibung und die Regierung der aus dem Osmanischen Reich hervorgegangenen Republik Türkei, dass es überhaupt einen Völkermord gegeben habe. Sie bezeichnen die Deportationen als «kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen», die notwendig geworden seien, da die Armenier das Osmanische Reich verraten, seine damaligen Kriegsgegner unterstützt und ihrerseits Massaker an Muslimen begangen hätten. Der Streit um die Anerkennung des Genozids als historische Tatsache belastet bis heute die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien. Erzbischof Karekin Bekdjian, Primas der Diözese der Armenischen Kirche in Deutschland, schrieb kürzlich zum Thema: «Diese unbeschreibliche menschliche Tragödie, die wir Armenier «Aghed» (Katastrophe) nennen, hat nicht nur mindestens 1,5 Millionen Opfer gefordert, sondern auch die gesamte westarmenische Kultur mit tausenden Kirchen, Klöstern und Schulen zerstört. Überlebende wurden oft zwangsislamisiert oder weltweit zerstreut, unzählige Kinder wurden zu Waisen. Die Wunde, die dieser Völkermord hinterlassen hat, schmerzt und blutet auch nach hundert Jahren noch, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Nachkommen der Täter diese historische Tatsache nach wie vor verleugnen. 2015 gedenken wir ein weiteres Mal der Opfer des Völkermordes an den Armeniern und tun dies in ökumenischer Gemeinschaft. Wir danken unseren Geschwistern anderer Konfessionen für die entgegengebrachte Solidarität.»

Solidarität auch im Aargau
Solidarisch zeigen sich auch viele Pfarreien im Aargau. Alexander Pasalidi, Pfarrer in Wegenstetten, sagt: «Wir werden uns der Einladung der AGCK anschliessen und als Zeichen des Mitgefühls in unseren Gemeinden läuten. In Wegenstetten, Hellikon und Zuzgen läuten die Glocken.» Aber auch in den Pfarreien Bad Zurzach, Birmenstorf, Bremgarten, Dottikon, Gebenstorf, Kaiseraugst, Koblenz, Lenzburg, Neuenhof, Oeschgen, Rothrist-Murgenthal, Sarmenstorf, Schneisingen-Siglistorf, Suhr-Gränichen, Unterkulm, Wildegg, Wohlen und Zeiningen verkünden die Kirchenglocken Solidarität mit den Opfern der Christenverfolgung – vor hundert Jahren, aber auch heute.

Verhinderung eines Genozids im Nahen Osten
Auch die christliche Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International (CSI) ruft zum Gedenken auf. CSI legt den Akzent aber vor allem auch auf die Verhinderung eines weiteren Genozids heute im Nahen Osten. Beim 100. Gedenktag an 1915 müsse es auch um die existenzielle Bedrohung der Nachkommen von Überlebenden in der Gegenwart gehen, schreibt die Organisation. Neben der Anerkennung des Genozids durch Bundesrat und Türkei fordert sie den Stopp der religiösen Säuberung in Syrien und im Irak, der die Nachkommen von Überlebenden des Genozids von 1915 heute zum Opfer fallen. CSI appelliert mit einer Petition an Bundesrat Didier Burkhalter, dem Einsatz für religiöse Minderheiten im Nahen Osten höchste Priorität zu geben. Meenschenrechtsaktivist John Eibner machte sich in Syrien ein Bild über die Lage der Religionsminderheiten. Im Gespräch mit Tagesanzeiger.ch/Newsnet berichtete er über die Erkenntnisse und Eindrücke seiner Syrien-Reise. «Eines der grossen Dramen des Syrien-Krieges sind die religiösen Säuberungen.», sagte er gegenüber der Zeitung. In Homs und Maaloula zum Beispiel hätten die sunnitischen Extremisten innerhalb der Rebellengruppen Säuberungen gegen Christen und andere Religionsminderheiten durchgeführt. In diesen Gebieten wurden Christen Opfer von Morden und Enteignungen, es wurden Kirchen geschändet und religiöse Symbole zerstört. Aber auch Alawiten und moderate Sunniten flohen vor den Rebellen. In einem Kommentar in der «Schweiz am Sonntag» schreibt John Eibner dazu: «Wenn diese Entwicklung nicht aufgehalten wird, werden die biblischen Länder im Nahen Osten – mit Ausnahme von Israel – bald der biblischen Völker beraubt sein. Die Juden wurden bereits in den 1950er- und 60er-Jahren aus den mehrheitlich sunnitischen Ländern des Nahen Ostens verjagt. Jetzt sind die Christen an der Reihe. ‚Auf den Sabbat folgt der Sonntag’, wie oft gesagt wird, wenn es um das Verschwinden der Christen aus dem Nahen Osten geht.»

Keime einer friedlicheren Menschheit
Auch Papst Franziskus hat die Weltgemeinschaft zum Handeln im Nahen Osten aufgerufen. Beim diesjährigen Ostersegen auf dem Petersplatz sagte er: «Die internationale Gemeinschaft möge nicht untätig bleiben angesichts der immensen menschlichen Tragödie im Inneren dieser Länder und des Dramas unzähliger Flüchtlinge.» Der Lärm der Waffen in Syrien und im Irak müsse aufhören und ein friedliches Zusammenleben aller Gruppen wieder hergestellt werden Papst Franziskus erinnerte daran, dass besonders Christen von der Gewalt und den Kriegen auf der Welt betroffen sind. Christen seien die Keime einer friedlicheren Menschheit.   Marie-Christine Andres / kath.ch

 

Veranstaltungen zum 100. Gedenktag des Genozids an den Armeniern

Requiem für die 1,5 Millionen Ermordeten
Freitag, 24. April, 13.30 Uhr
Eglise St-Hagop, Troinex-Genève.
Die Kirchenglocke wird 100 mal anschlagen für die 100 vergangenen Jahre.

Gedenkkonzert mit sakraler Musik
Freitag, 24. April 2015, 19.15 Uhr
, Berner Münster. Mit Rezitationen in Deutsch, Armenisch und Französisch, Musik aus dem Requiem und 
Stellungnahmen von Schweizer Politikern.

Requiem für die Opfer
Samstag, 25. April, 19.15 Uhr, 
Fraumünster Zürich.

Konzert zum Gedenken
Samstag,
 25. April, 19.30 Uhr
, in der Kirche Hundwil/Appenzell.

Gottesdienst zum Gedenken
Sonntag, 
26. April, 10 Uhr
, in der Kirche von Muri bei Bern. «Erinnern – nicht Vergessen»: «ER hört mein Klagen» (Psalm 55,18) Manuschak Karnusian erinnert an ihre Grosseltern und den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren. Pfarrer Christoph Knoch richtet den Blick auf die Situation der Christen in Syrien und im Irak heute.
 Mit Talita Karnusian, Geige, Micha Hornung, Akkordeon. Manuschak Karnusian, Texte. Christoph Knoch, Predigt, Liturgie, Taufe. Christine Heggendorn, Orgel.

Konzert mit armenischen Liedern
Samstag, 6. Juni, 17 bis 17.45
 Uhr Eglise Saint-François, Lausanne. Anschliessend protestantischer Gottesdienst, Samstag, 6. Juni, 18 Uhr
Mit Gebet für die Verfolgten im Mittleren Osten.

Ökumenischer Gottesdienst
Sonntag, 7. Juni, 18 Uhr
Kathedrale Lausanne. Mit Vertretern der armenischen und der syrischen
Kirchen sowie den Mitgliedskirchen der AGCK Waadt.

 

Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (AGCK) in der Schweiz
Die AGCK ist eine national tätige ökumenische Plattform in der Schweiz. Sie wurde 1971 gegründet. Zehn Kirchen sind Mitglied, unter anderem der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK), die Römisch-katholische Kirche der Schweiz, die Christkatholische Kirche der Schweiz, christlich-orthodoxe und weitere Kirchen. Sie haben 2005 in St. Ursanne die Charta Oecumenica unterzeichnet. Das Dokument nennt Selbstverpflichtungen im Verhalten der Kirchen untereinander, gegenüber der Gesellschaft und anderen Religionen und Weltanschauungen, insbesondere dem Judentum und dem Islam.

 

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