08.05.2019

Syrien: Flüchtlingsjunge kämpft um seine Zukunft

Von Fabrice Boulé, Caritas Schweiz

  • Der syrische Krieg erfordert auch von den Nachbarländern enorme Kraftakte. Innerhalb von wenigen Jahren wurden 250’000 syrische Kinder im Libanon eingeschult.
  • Caritas unterstützt Flüchtlingsfamilien im Libanon, aber auch ein Projekt für Stützunterricht, mit dessen Hilfe sich Flüchtlingskinder ins libanesische Schulsystem integrieren können.

 

Bilal war gerade mal fünf Jahre alt, als seine Familie aufgrund des Krieges der Stadt Hassake im Nordosten Syriens den Rücken kehrte und in Beirut, der Hauptstadt des Libanons, Zuflucht suchte. Dass die Familie Syrien so schnell nach Ausbruch des Konflikts verlassen konnte, war möglich, weil der Vater bereits vor dem Krieg regelmässig in Beirut auf dem Bau gearbeitet hatte.

300 Dollar monatlich für eine dreckige, feuchte Wohnung

Als die Lage in der syrischen Heimat 2012 immer brenzliger wurde, liess sich die ganze Familie im Norden der libanesischen Hauptstadt nieder. Dort, im neuen und stark bevölkerten Quartier «Bir Hassan», dessen enges Gassengeflecht sich ständig verändert, fanden über die Jahre sehr viele syrische Flüchtlinge Zuflucht. Gemäss Behördenangaben sind es rund 1,5 Millionen – also 16,7 Prozent der syrischen Bevölkerung. Offiziell registriert durch das UNHCR waren zu Anfang dieses Jahres 946’000 Personen.

Solange Bilals Vater Ismaïl Arbeit hatte, lief alles relativ gut. Doch dann bekam dieser Gesundheitsprobleme. Wegen seiner kranken Nieren fand er keine Stelle mehr auf dem Bau. Mit vier Kindern konnte sich die Familie kaum mehr über Wasser halten. Mutter Amira versuchte, das klägliche Familieneinkommen als Putzfrau aufzubessern. Einige Jahre lang erhielt die Familie zudem finanzielle Unterstützung vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), aber diese Hilfe lief aus.

Ismaïls Familie lebt mittlerweile in einer ebenerdigen Dreizimmer-Wohnung. Die Strasse vor der kalten und feuchten Wohnung ist voller Schlamm. Um die 300 Dollar Miete im Monat bezahlen zu können, muss sich die Familie verschulden.

Bilals grösster Wunsch: Ein Fahrrad

Bilal, der wegen des Krieges und der Flucht Lücken in seiner Schulzeit hatte, versucht mit sehr viel Einsatz, die fehlenden Kenntnisse aufzuholen. Er besucht die Schule «Omar Fakhoury» im Quartier «Jnah». Bilal ist ein feingliedriger und zurückhaltender Junge. «Arabisch ist mein Lieblingsfach», sagt er und ergänzt: «Alle bescheinigen mir grosse Fortschritte».

Bilals grösster Wunsch: «Ich hätte gern ein Fahrrad», sagt er mit einem Lächeln und Schalk in den Augen. Doch dann verschwindet das Lächeln jäh aus seinem Gesicht: «Als die Kämpfe ausbrachen, wurde alles sehr schwierig», erzählt er. Erinnert er sich wirklich? Oder hat er verinnerlicht, was in der Familie erzählt wird? Vielen syrischen Kindern ist deutlich anzumerken, wie traumatisiert sie sind.

Caritas-Geld für die Schuldensanierung

In «Zahle», der Ebene von Bekaa, kämpft die 24-jährige Mazzin für den Schulbesuch ihrer Nichte und ihres Neffen. Seitdem ihr Mann vor einigen Monaten nach Syrien zurückkehrte, hat sie nichts mehr von ihm gehört. Sie lebt in einer sogenannten «informellen Einrichtung», einem Lager aus notdürftig mit Holzbrettern abgestützten Zeltplanen auf einem Stück Erde. Den Boden hat Mazzin mit zwei weiteren Familien vom Grundstücksbesitzer gemietet. Im Winter ist das Grundstück voller Schlamm und jeder Schritt wird zur Gefahr. Mazzin kümmert sich zudem um die Kinder ihres Bruders, dem es gesundheitlich zu schlecht geht, um seine Kinder selbst gross zu ziehen.

Mazzin erhält seit fünf Jahren eine finanzielle Unterstützung von Caritas. Dadurch kann sie einen Teil ihrer Schulden zurückzahlen und eine Ausbildung zur Schneiderin und Frisörin machen. Die Unterstützung der Caritas hilft ihr auch, ihrem Neffen und ihrer Nichte den Schulbesuch zu ermöglichen. Aber den Grossteil des Geldes wird sie für Essen und Medikamente ausgeben. Eine solche Nothilfe, die die Empfänger mit einer Bankkarte an einem Geldautomaten beziehen können, verhindert, dass Familien immer tiefer in die Schuldenfalle geraten.

Nur die Hälfte besucht den Unterricht

Die Zahl der schulpflichtigen syrischen Kinder im Libanon wird auf 500’000 geschätzt, 250’000 sind eingeschult. Um seine fehlenden Schulkenntnisse aufzuholen, besucht Bilal jeden Tag zusätzlich Stützunterricht. Rund 4’600 syrische und libanesische Kinder besuchen diese Kurse. Die libanesischen Behörden ordnen diese Kurse an und bestimmen das Anforderungsprofil mit dem Ziel, die Integration der Kinder in das reguläre Schulsystem zu fördern. «Gerade Schüler mit Lernschwierigkeiten und auch sozialen Problemen sind die Zielgruppe dieser Stützkurse», erklärt Abbas Hawille, Bilals Arabischlehrer.

Auch die Eltern werden einbezogen

Auch die Eltern der syrischen und libanesischen Kinder werden in regelmässigen Sitzungen in das Projekt einbezogen. Der Grossteil der Eltern nimmt an diesen Sitzungen teil. Somit unterstützt das Projekt nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern und das gesamte libanesische Schulsystem.

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