24.01.2022

Holocaust-Gedenktag am 27. Januar
Traumatisiert über Generationen

Von Christiane Faschon

  • Am 27. Januar 1945 befreite die vorrückende Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
  • Das grösste deutsche Konzentrationslager im zweiten Weltkrieg wurde zum Symbol für die Vernichtung der Juden, den Holocaust. Am Jahrestag seiner Befreiung begehen die Vereinten Nationen den «Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust».
  • Opfer sind auch die Nachkommen der Überlebenden und der Täter, denn sie tragen die Folgen bis heute.


Auschwitz ist, als grösstes deutsches Konzentrations- und Vernichtungslager im zweiten Weltkrieg, zum Symbol für die Vernichtung der Juden, den Holocaust, geworden. Der Tag der Befreiung durch die sowjetische Armee, am 27. Januar 1945, ist in Deutschland seit 1996 ein bundesweiter Gedenktag, der sogenannte «Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus». Die Vereinten Nationen erklärten das Datum im Jahr 2005 zum «Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust». 77 Jahre nach Kriegsende tragen die Nachkommen der Überlebenden und der Täter noch immer die Folgen der Shoah. Der hebräische Begriff «Shoah» bedeutet «Unheil, Unglück oder Katastrophe» und steht für den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas.

Die Autorin dieses Beitrags, die Theologin Christiane Faschon, kennt die Weitergabe von Traumata über die Generationen aus eigenem Erleben. Im Interview erklärt sie, was der zweiten und dritten Generation hilft, die ererbten Traumata zu überwinden.

Unbewusste Weitergabe

Mitte der 1960er-Jahre kamen die Kinder Überlebender mit ähnlichen Symptomen wie ihre Eltern zu Therapeuten. Damit begann die Untersuchung zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata, englisch «Transgenerational Transmission of Trauma», abgekürzt TTT. Offenbar werden die Erfahrungen einer Generation auf die nachfolgenden übertragen. Meist geschieht das unbeabsichtigt, unbewusst und ungewollt. Dabei spielen psychologische und genetische Faktoren aus unverarbeiteten Traumata eine Rolle.

Die Psychoanalytikerin Judith Kestenberg erklärte mit dem Begriff «Zeittunnel» das Phänomen, dass die Nachkommen der Holocaustopfer psychisch an dem Punkt anknüpfen, an dem das vorher normale Leben ihrer Eltern gewaltsam unterbrochen wurde. Obwohl sie nach 1945 geboren wurden, liege der gefühlsmässige Geburtszeitpunkt der zweiten Generation in den Konzentrationslagern, postuliert Kestenberg.

Die Eltern erlösen

Einerseits sollen die Kinder betroffener Familien ersetzen, was die Eltern verloren haben. Andererseits sollen sie aber auch glücklich und erfolgreich werden und so den Sieg über die Verfolger repräsentieren. Die zweite Generation versucht, die Eltern von den seelischen Schrecken zu erlösen und fühlt sich oft lebenslang für sie verantwortlich. Die zweite Generation spricht nicht über die eigenen Sorgen. Viele zweifeln, ob sie glücklich sein dürfen, wenn die Eltern leiden. Die zweite Generation ist anfällig für posttraumatische Belastungsstörungen, Stress, psychosomatische Krankheiten und Depressionen.

Stress verändert die Genfunktion

Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie erforscht seit Jahren die Auswirkungen der elterlichen Traumata auf die Gene ihrer Kinder. Epigenetik ist dabei das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen: Veränderungen an den Chromosomen bestimmen mit, wann welches Gen an- oder abgeschaltet wird. Da der Umgang mit Stress vererbt wird, spielen Traumata hier eine Rolle. Dies geschieht unabhängig davon, ob Erwachsene über die erlebten Belastungen sprechen oder darüber schweigen. Die Forschung zeigt: Traumata lassen sich vor Kindern nicht verbergen. Doch der Prozess ist reversibel.

Die Nachkommen der Täter

Der israelische TTT-Forscher Dan Bar-On befragte erstmals in den 1980er-Jahren Täternachkommen in Deutschland. Es zeigte sich, dass die meisten Väter Angst vor Bestrafung hatten, jedoch kein Schuldbewusstsein. Die Last der Schuld- und Schamgefühle bürdeten sie ihren Kindern auf. Meist brechen erst die Enkelinnen und Enkel das Schweigen. Die Kinder lernten, in zwei getrennten Welten zu leben. Der Vater war ja trotz seiner Verbrechen daheim fürsorglich; neben der «heilen Familie» stand das Grauen.

Der Bruch zwischen den Taten und der Akzeptanz der Folgen wurde oft weitergegeben. Täter verletzen ihre eigene Menschlichkeit. Deren Kinder mussten sich dem Horror stellen, etwa, dass der Vater ein Massenmörder war. Nicht wenige wollten daher keine Kinder. Sie sind ebenfalls traumatisiert, doch hat ihr Trauma eine andere Qualität als das der Verfolgten. In Exodus 34,7 heisst es, Gott «…verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation». Die Bibel beschreibt hier die menschliche Realität, dass Eltern ihre «Rucksäcke» an die nächste Generation weitergeben. Es ist keine Schuldzuweisung an die Kinder.

Das Trauma bewusst thematisieren

Die katholische Kirche forderte von den Tätern nach dem Krieg keine Anerkennung der Schuld, sondern plädierte für «Vergeben und Vergessen». Auch in der Seelsorge ist das bis heute kein Thema. Am 27. Januar sollten wir uns der Folgen jeder Traumatisierung bewusst sein. Darum in Erinnerung an die Opfer: Zichronam livracha – möge unser Gedenken ein Segen werden.

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