14.08.2015

«Trittst im Morgenrot daher»

Von Anne Burgmer

Am 12. September 2015 ist es soweit. In Aarau findet das Eidgenössische Volksmusikfest statt und der Künstlerwettbewerb um eine neue Nationalhymne, den die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) am 1. Januar 2014 ausgeschrieben hatte, endet mit dem Finale in der Sendung «Potzmusig».

1. August 2015 irgendwo im Aargau in einem SBB-Wagen. Der Bundesfeiertag ist Thema in allen Gesprächen und aus dem Nachbarabteil ertönt, text- und tonsicher, eine Jungenstimme: «Trittst im Morgenrot daher/ Seh’ ich dich im Strahlenmeer/ Dich, du Hocherhabener/ Herrlicher! Wenn der Alpenfirn sich rötet/ Betet, freie Schweizer, betet!» – Stille und nach einer kurzen Zeit sagt eine dazugehörende Erwachsenenstimme: «Bravo, damit kannst du mehr, als die meisten von uns Schweizern».

Sperriger Text
Dass sich selbst mit dem Text vor Augen nicht automatisch Sangesbegeisterung einstellt, erlebte Jean-Daniel Gerber, Präsident der SGG, am 1. August 2011 auf dem Rütli. Erstmals durfte er am Anlass zur Bundesfeier die Hymne anstimmen und staunte über die mangelnde Begeisterung, obwohl den Gästen der Text vorlag. «Er sah den Grund für diese Malaise im Text, der sprachlich sperrig ist und voller Bilder, die nicht unserem Sprachschatz entsprechen», erklärt Lukas Niederberger, Geschäftsleiter der SGG. Anfang 2014 wurde dann der Wettbewerb ausgeschrieben. «Historisch hat sich die SGG stets mit der Frage auseinandergesetzt: Welche Schweiz wollen wir? Was sind unsere Werte? Sie macht das heute unvermindert und diese Diskussion ist nie abgeschlossen. Sie wird von jeder Generation neu geführt. Mit der Suche nach einer neuen Nationalhymne möchte die SGG diese Fragen gemäss ihrer Tradition fortsetzen», begründet Jean-Daniel Gerber den Schritt in einem Interview auf der Homepage der SGG.

Rege Beteiligung
Der Rücklauf an Vorschlägen überraschte sogar die SGG: statt der erwarteten etwa 50 trudelten nach und nach 208 Wettbewerbsbeiträge ein. Auch ein Aargauer Vorschlag, von Hans Müller aus Küttigen, war dabei und schaffte es gar unter die besten Zehn. «Spannend ist, dass sich die Öffentlichkeit und die Medien in der Romandie viel stärker für eine neue Hymne interessieren als die Menschen in der Deutschschweiz. Ich glaube, dass dies einerseits damit zusammenhängt, dass in der französischen Kultur mehr über Grundsatzfragen der Politik und Gesellschaft reflektiert und geredet wird. Und andererseits ist die französische Übersetzung des Schweizerpsalms schlimm», sagt Lukas Niederberger. Eine Jury von 30 Fachleuten aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen beurteilte die Einsendungen und reduzierte sie auf sechs Beiträge, über diese konnte öffentlich online abgestimmt werden; drei sind nun im Finale. Und wie ist die Stimmbeteiligung der Bevölkerung? Über aktuelle Zahlen will Lukas Niederberger nichts sagen. Doch beim ersten Online-Voting besuchten rund 100 000 Personen die Wettbewerbsseite. «Natürlich wäre mir am liebsten, es würden 7 Millionen Besucher auf die Seite kommen, doch ich bin mit den Zahlen bisher zufrieden», ergänzt er. Dass der Wettbewerb öffentlichkeitswirksam ist, zeigt eine Strassenbefragung in Bremgarten. Nur einer von knapp zwanzig Befragten wusste nichts mit dem Thema anzufangen.

Die Gottesfrage
Die Voten der Befragten sind überraschend eindeutig und machen einen merkwürdigen Widerspruch deutlich. Die Mehrheit wünscht sich, dass die aktuelle Hymne beibehalten wird; gleichzeitig will ein noch grösserer Teil der Befragten keinen Gottesbezug im Text. Im Fall der aktuellen Version ein Ding der Unmöglichkeit. Die Begründung ist in jedem Fall dieselbe: «Es geht in der Hymne um das Land und nicht um Gott. Warum sollte also eine Art Gebet unsere Hymne sein?», formuliert es ein Gesprächspartner. An der Gottesfrage scheiden sich die Geister. «Gott gehört zwingend hinein», sagt Marcel Notter, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau. Ihm gefalle die Hymne, auch wegen der Naturbilder; eine neue brauche es nicht. Luc Humbel, Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau, sieht ebefalls keine Notwendigkeit, die Hymne zu ersetzen. Zur Gottesfrage sagt er: «Wenn es um die Bestrebung gehen sollte, den Bezug zu Gott zu verwässern, soll man sich vor Augen halten, wie viele Christen in diesem Staat leben». Grundlage für eine Textneufassung im Rahmen des Wettbewerbs war die Präambel der Bundesverfassung, die mit dem Satz «Im Namen Gottes, des Allmächtigen» beginnt. «Die Autorinnen und Autoren mussten die Präambel nicht wortwörtlich in einen neuen Hymnentext umsetzen. Autorinnen und Autoren, die nicht an einen persönlichen Gott glauben oder der Meinung sind, dass Gott nicht explizit in der Hymne eines religiös neutralen Staates stehen sollte, haben den ersten Satz der Präambel nicht verwendet», erklärt Lukas Niederberger.

Christliche Werte
In politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um das Selbstverständnis der Schweiz werden oft «christliche Werte» ins Feld geführt. Doch muss deshalb in der Nationalhymne von Gott gesungen werden? Valentin Abgottspon, Vizepräsident der Freidenker-Vereinigung Schweiz (FVS) und zuständig für das Ressort Politik, stellt in Frage, ob jedes gute Handeln automatisch auf eine christliche Basis zurückzuführen sei. Bezüglich der Neufassung der Hymne sagt er: «Wir wünschen uns eine möglichst neutrale Sprache. Im Sinne des Inklusionsgedankens sollten Gottesbezug und Religiosität, Religionen und religiöse Bekenntnisse nicht in unserer Landeshymne vorkommen. Diese soll ja alle ansprechen.» Ähnlich formuliert es auch ein Theologe. Robert Trottmann aus Baden, Liturgiker und Pfarrer im Ruhestand, hat ebenfalls einen neuen Text geschrieben und erklärt: «Ich habe bewusst das Wort «Gott» nicht verwendet. Das hat für mich mit Respekt für diejenigen zu tun, die nicht an Gott glauben und anderer Auffassung sind. Auch diese sollen sich mit dem Text identifizieren können. Eine Nationalhymne soll für alle da sein.» Wichtig ist ihm allerdings, dass die «Sache Gottes», das Reich Gottes, im Text zur Sprache kommt. Ein Gesprächspartner bei der Strassenumfrage findet deutliche Worte: «Ich fände es gut, wenn es eine neue Nationalhymen gäbe. Doch obwohl ich Christ bin, würde ich den Gottesbezug rauslassen. Viele Menschen können mit Gott nichts mehr anfangen. Es kann nicht Sinn und Zweck einer Nationalhymne sein, Anders- oder Nichtgläubige auszuschliessen. Gott ist schnell Grund für Streit, und eine Hymne soll doch Freude über das Land ausdrücken. Und Dankbarkeit.»

Wer sich selber ein Bild von den drei Finalbeiträgen machen möchte, findet diese auf www.chymne.ch
Der Gewinner des Finales wird der Bundesbehörde als neuer Hymnenvorschlag vorgelegt. Die Bundesbehörde entscheidet dann über das weitere Vorgehen.

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