08.11.2016

Unterwegs in der multikulturellen Schweiz

Von Marius Schären

Jonathan Kreutner, 37, ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes und in Zürich aufgewachsen.

«Alle meine acht Urgrosseltern stammen aus Ostpolen, sie waren Ostjuden – aber in Europa fühle ich mich ausgerechnet im Osten am wenigsten daheim. Also dort, wo der geographische Ursprung meiner Familie liegt. Die Eltern meiner Mutter waren polnische Juden, jene meines Vaters kamen aus Österreich. Sie flüchteten 1938 in die Schweiz, als mein Vater ein Jahr alt war. An der Grenze wurden sie von Paul Grüninger gerettet.

An vielen Orten zuhause

Unsere jüdische Herkunft war und ist bei uns immer ein Thema. Meine Familiengeschichte hat mich auch bereits als Kind interessiert: Woher kommen wir? Was sind wir? Die Seite der Mutter habe ich sehr gut gekannt, weil sie selbst vieles erzählte. Von der Geschichte der Familie meines Vaters hingegen erfuhr ich kaum etwas.

Ich selbst bin in Zürich geboren und aufgewachsen. Für mich ist hier meine Heimat; da, wo ich mich wohlfühle. Wo ich meinen Lebensmittelpunkt habe. Wo ich auch mitdenken und mitgestalten kann. Da, wo auch meine Eltern sind – und meine Frau, die aus einer seit Generationen schweizerisch-jüdischen Familie stammt.

Aber selbst wenn mein Lebensmittelpunkt klar in Zürich liegt: Das heisst nicht, dass er sich nicht verschieben kann. Mir ist insgesamt das europäisch-kulturelle Verständnis sehr nah. Ich fühle mich hier an vielen Orten zu Hause. Früher war ich zwar in Deutschland und Österreich nicht so wohl – das ist vermutlich historisch bedingt. Doch das Europäisch-Jüdische ist für mich das prägende Element. Hinzu kommt aber eine tiefe Verbundenheit zu Israel. Sigi Feigl hat immer gesagt: Israel ist mein Mutterland; für mich stimmt das ganz genau so. Meine Mutter war anfangs staatenlos und erhielt dann das israelische Bürgerrecht. Und ich bin nun Doppelbürger Schweiz-Israel.

Israel ist der emotionale Ursprung

Wenn ich nach Israel reise, ist die Ankunft jeweils etwas ganz Besonderes, wie eine Rückkehr zum emotionalen Ursprung. Es ist ja auch dieses kleine Flecklein Land, in dem die jüdische Geschichte ihren Anfang genommen hat. Das transportiert für mich eine Art Sehnsucht.

Die Religion selbst bedeutet für mich aber eher Tradition und Identität als Heimat. Wenn ich irgendwo im Ausland bin, versuche ich mich dort einzufühlen, zu verstehen, ich lese mich in die Geschichte ein. Ich muss nicht überall ein Fondue essen gehen, um mich zu Hause zu fühlen.

Die Religion verbindet alle Juden

Und obwohl ich nicht das Religiöse suche, führt mich der Weg jeweils in die Synagoge – einfach, weil es eben die Religion ist, die alle Juden verbindet, auch rein als Begegnungsort. Vielleicht ist das auch meine Suche nach Heimat.

Ich glaube, wir Juden haben das über Generationen hin gelernt: Uns schnell zu integrieren und dort Teil der Gesellschaft zu werden, wo wir sind. Und dort auch mitzugestalten. Das Kosmopolitische ist uns wichtig, die verschiedenen Geschichten, die zusammenkommen. Es gibt deshalb nicht eine typische jüdische Biographie; immer hat der Ort, wo wir jeweils leben, eine wichtige Bedeutung.

Wir brauchen nicht viel Integration

Und im Ganzen stiften unsere Religion und Geschichte Identität – deren Grundwerte tragen mit und bleiben über Generationen gleich. Aber die Gesetze vor Ort stehen darüber. So schaffen wir uns vielerorts Heimat. Wir brauchen nicht viel Integration.

Ich komme aber immer auch gerne zurück nach Zürich. Ich mag den Anflug über Kloten mit den schönen Wiesen und Feldern, die Luft, die Sauberkeit und das Geordnete. Ich freue mich auf die verschiedenen Brotsorten, die frischen Früchte. Trotzdem zählt das für mich nicht unbedingt zum Heimatgefühl – ich glaube, das ist vielmehr… Das ist schlicht und einfach Gewohnheit.»

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