19.12.2016

Vom Wert des Wartens

Von Carmen Frei

Der Glaube, dass Gott Mensch geworden ist, zeichnet das Christentum gegenüber anderen Religionen aus. Begonnen hat die Verehrung des göttlichen Kindes im 13. Jahrhundert dank dem Erfinder des Krippenspiels, Franz von Assisi.

«Im 13., 14. Jahrhundert verlagerte sich das Verständnis weg vom allmächtigen Herrscher, hin zu einem Gott, der als Mensch in die Welt gekommen ist», erklärt Barbara Reif, ehrenamtliche Kuratorin des Museums Kloster Muri. Begründet wurde dieser tiefgreifende Glaubenswandel durch das erste Weihnachtsspiel. Franz von Assisi war im Dezember 1233 in Greccio zugegen und hatte die Idee, den dortigen Menschen die Geschichte von Jesu Geburt näher zu bringen. Dies jedoch nicht als Erzählung, sondern als Erlebnis, indem die Menschen die Geschichte gleich selber spielen durften.

Infotainment

Daraus entwickelte sich eine Emotionalisierung des Glaubens. Jesuskinder wurden fortan von Menschen gebraucht, um sie zu wiegen und so eine Verbindung zu ihnen aufzubauen. Entsprechend entstanden im Laufe des Mittelalters zahlreiche plastische und bildliche Darstellungen des kindlichen Erlösers. Barbara Reif verweist auf das Besondere: «Es sind Einzelfiguren, losgelöst und unabhängig von Weihnachtsdarstellungen oder Krippenszenen.»

Führung empfohlen

Dieser Umstand sticht auch den Besucherinnen und Besuchern der zweiten Sonderausstellung im Museum Kloster Muri sofort ins Auge und führt zur Frage: Sind dies wirklich Christkinder? «Je mehr man über die gezeigten Objekte weiss, desto besser versteht man die Ausstellung und freut sich umso mehr daran», findet Kunst- und Kirchenhistorikerin Barbara Reif. Dies ist ein Grund, warum bis Ausstellungsende am 15. Januar 2017 jeden Sonntag um 14 Uhr öffentliche Führungen angeboten werden.

Gleichgestaltig werden

Wer sich auf das Ausstellungs-Thema einlässt, erfährt zum Beispiel den Sinn hinter der verstärkten, gefühlsmässigen Verbindung zum Christkind. Er wird auch im Ausstellungsführer beschrieben: «Die Gläubigen sollen sich selbst ganz in die Situation Jesu versetzen, an seiner Geburt, seinem Leben, Leiden und Sterben Anteil nehmen – letztlich ihm ‚gleichgestaltig’ werden. So werden sie, laut Verheissung, auch mit ihm auferstehen.» Diese Frömmigkeitshaltung erreichte in der Barockzeit ihren Höhepunkt. Aus dieser Zeit – auch der Blütezeit des Klosters Muri – stammen die Exponate, geliehen aus einer Privatsammlung.

Holde Knaben

In der Mitte des ersten Ausstellungsraums stehen die drei «Lieblinge» der Kuratorin. Jesuskinder aus Süddeutschland, Italien und Spanien. Barbara Reif lacht, weil sie findet, dass die blosse Körperlichkeit der drei Holden auf deren Ursprungsland verweist. Und Recht hat sie. Was hier und im Verlauf des Ausstellungsbesuchs auffällt: Die Figuren haben nichts wirklich Kindliches an sich. Sie tragen eine Ernsthaftigkeit im Gesicht, Krone, Reichsapfel, Weltkugel und Kreuz in der Hand oder präsentieren sich als himmlischer Bräutigam. Barbara Reif: «Diese Jesuskinder bringen damit ihre Bestimmung zum Ausdruck, nehmen also das spätere Leben vorweg, insbesondere das Leiden und den Tod.»

Hinter Tapeten und Täfer

Im zweiten Ausstellungsraum finden sich verschiedene Andachtsbilder, im Volksmund als «Helgeli» bezeichnet, und ein sogenanntes Fatschenkind. Fatschenkinder sind eng gewickelte – gefatschte – liegende Jesuskinder. Sie fanden grosse Verbreitung in Frauenklöstern – als «Trösterli» – oder in Wohnstuben, «im sogenannten Herrgottswinkel», sagt Barbara Reif. Für eine frühere Ausstellung zu Fatschenkindern kam sie mit einer Familie im Oberfreiamt in Kontakt, welche nach einer umfassenden Renovation des Hauses unter Schichten von Tapeten und Täfer auf ein solches Christkind stiess. «Obwohl die Verehrung im Lauf der Jahre abgeflacht war, wäre es den Hausbesitzern nicht in den Sinn gekommen, dieses Fatschenkind wegzugeben.»

Von Scherben und Narben

Zu Fatschenkindern hat die Ausstellungsmacherin weitere Geschichten auf Lager. Etwa jene vom Münchner Christkind. Sie geht so: Im Jahr 1624 schlich sich ein Frater der Augustinerbarfüsser nachts zu dem heute so berühmten «Kindl», um es einmal ganz allein in seinen Armen zu halten und zu wiegen. In seiner Aufregung liess er den wertvollen Schatz seines Klosters fallen und das beinahe lebensechte Köpflein mit den schönen Glasaugen zersprang in tausend Stücke. Verzweifelt räumte der Mönch die Scherben in einen Schrank und bat Gott um Hilfe. Als das Weihnachtsfest immer näher rückte, musste er dem Prior sein Vergehen beichten. Als sie jedoch gemeinsam den Schrank öffneten, hatte sich auf wundersame Weise das Gesicht wieder zusammengefügt. Nur ein Riss an der Wange zeugt bis heute vom Sturz. Barbara Reif: «Wegen dieser Geschichte haben auch andere Fatschenkinder eine Narbe auf der Wange».

Wieder warten können

In München übrigens wird das berühmte «Kindl» immer nur vom ersten Weihnachtsfeiertag bis zum Dreikönigstag zur Verehrung ausgestellt. Auf die Frage, was sie aus der Erfahrung mit der Christkind-Ausstellung mitnimmt, knüpft Barbara Reif an diesem Punkt an. «Die Christkinder wurden immer erst am 25. Dezember aufgestellt. Das machte mir wieder bewusst, wie wertvoll es eigentlich ist, auf etwas Warten zu können.»

Thema mit Wirkkraft

Zurück bei den drei Holden im ersten Ausstellungraum liegt nach wie vor ein gewisses Erstaunen ob der intensiven Jesuskindverehrung in der Luft. Nochmals Barbara Reif: «Spannend ist ja auch, dass sie alle Schichten durchwirkte.» So nähte die mit Königsfelden eng verbundene Agnes von Ungarn fürs Sarner Jesuskind Kleider, gleichwohl tat es die österreichische Kaiserin Maria-Theresia fürs Prager Jesuskind, dessen jüngste Krone ihm der emeritierte Papst Benedikt 2009 schenkte. «Grosser Respekt vor Kultur und Inhalt der Jesuskindverehrung bewog auch den Leihgeber zu dieser Sammlung», betont Barbara Reif und verweist abschliessend auf den Ausstellungsführer, in dem am Ende des Einführungstextes steht: «Die Wirkungsgeschichte dieser Praxis und der christlichen Vorstellung von der Gotteskindschaft reicht bis zur Diskussion um die modernen Kinderrechte.» Abermals ein Argument, sich eingehend mit der Ausstellung «Christkinder und andere weihnächtliche Schätze» zu befassen.

 

 

 

 

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