22.10.2013

Warum schämen sich die Reichen nicht?

Von Horizonte Aargau

In Gebenstorf organisiert die fünfköpfige oekumenische Erwachsenenbildungsgruppe um Hilde Seibert, Maria Hayoz, Maria Pozzato, Rudi Neuberth (ref. Pfarrer) und Andreas Zimmermann (kath. Gemeindeleiter) alle zwei Jahre eine Veranstaltungsreihe zu aktuellen sozialpolitischen Fragestellungen. Dieses Jahr unter dem Titel: Paradies Schweiz – Realitäten und Visionen zu Armut und Reichtum in unserem Land. Noch bis am 14. November 2013 findet in Gebenstorf jeden Donnerstagabend ein Themenabend statt (siehe unten). Thema ist die Verteilungsgerechtigkeit in der Schweiz. Konkret: Welche Formen von Armut gibt es bei uns und wer kümmert sich um diese Menschen? Darüber hinaus: Was kann das politische System tun, möglichst allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen? Im Interview diskutieren Hilde Seibert, Andreas Zimmermann, katholischer Gemeindeleiter in Gebenstorf und der reformierte Pfarrer Rudi Neuberth, welche Erfahrungen sie mit Armut und Reichtum in ihrem Alltag gemacht haben.

In Gebenstorf über Armut und soziale Gerechtigkeit reden: Funktioniert das? Inwieweit ist dieses Thema in der Gemeinde überhaupt präsent?
Andreas Zimmermann: Gebenstorf ist keine wohlsituierte Vorortsgemeinde mit hohem Akademikeranteil, sondern hat eine gute Durchmischung. Wir haben einen Ausländeranteil von 25 Prozent. Darunter auch an die 250 Menschen aus Syrien.
Hilde Seibert: Ich sehe bei uns im Dorf immer wieder ältere Frauen mit Kopftuch. Sie sprechen kaum ein Wort Deutsch und scheinen mir so entwurzelt. Das ist für mich auch eine Form von Armut.

In Baden klingeln Armutsbetroffene beim Pfarreisekretariat. Passiert das in Gebenstorf auch?
Rudi Neuberth: Das gibt es schon, doch. Kommt aber selten vor. Ich erlebe Armut bei uns oft als Armut an Beziehungen. Gerade ältere Menschen sind aufgrund eingeschränkter Mobilität oft einsam. Die Kinder leben in anderen Regionen, Freunde und Bekannte sind weggestorben. Aber auch die Tatsache, dass wir in unserer Gesellschaft kaum Zeit haben, uns um diese Menschen zu kümmern, ist ein Armutszeugnis.
Andreas Zimmermann: Das Thema ist ein Tabu. Gerade wenn ich Angebote für Familien ausschreibe, erlebe ich das. Da kommt niemand und sagt, ich würde eigentlich gern kommen, aber ich kann das nicht bezahlen. Die Scham ist gross.
Hilde Seibert: Das dünkt mich typisch für die Schweiz. Bei uns schämen sich die Menschen, die arm sind. Warum schämen sich die Reichen nicht?

Weil die Idee in den Köpfen herumgeistert, dass es in der Schweiz keine Armut gibt?
Hilde Seibert: Vielleicht. Vieles wird verdrängt, Armut ist bei uns nicht so sichtbar wie in anderen Ländern.

Was gab euch den Anstoss für das gewählte Thema?
Hilde Seibert: Im Grunde geht um Verteilungsgerechtigkeit. Wir beleuchten zunächst, welche Formen von Armut gibt es bei uns und wer sich um diese Menschen kümmert. Danach fragen wir aber auch, was das politische System dazu tun kann, möglichst allen Menschen im Lande ein gutes Leben zu ermöglichen. Zu jedem Themenabend haben wir Experten eingeladen. Unter anderem zwei Vertreterinnen von ATD Vierte Welt, den Soziologen Ueli Mäder und die Politiker Cédric Wermuth von der SP und Thierry Burkart von der FDP sowie Max Chopard (SP) und Sylvia Flückiger (SVP). Da geht es um die 1:12-Initiaitve und das Volksbegehren für einen verbindlichen Mindestlohn.
Andreas Zimmermann: Wir hatten auch schon überlegt, die Idee für ein bedingungsloses Grundeinkommen zum Thema zu machen. Aber wir konnten bei der Planung noch nicht davon ausgehen, dass die nötigen Unterschriften zusammenkommen. Und es wäre dann schade gewesen, über etwas zu diskutieren, das als Thema so keine brennende Aktualität besitzt.

Hinsichtlich der 1:12-Initiative seid ihr nun brandaktuell, die Abstimmung ist im November.
Hilde Seibert: Das kann man sagen. Die SP hätte die Abstimmung gerne schon im September gehabt. Uns hingegen ist es schon recht, dass sie im November stattfindet (lacht).

Was hofft ihr, mit der Themenreihe erreichen zu können?
Andreas Zimmermann: Wir möchten den Leuten die Möglichkeit für ein umfassendere Bild der Wirklichkeit zu bieten.
Hilde Seibert: Auch Mut machen, etwas zu tun. Gegensteuer geben zur weit verbreiteten Idee, dass man ja doch nichts ändern könne. Vielleicht entsteht im Anschluss an die Themenabende eine Initiative, ein Projekt. Das wäre schön.

Wie kann man denn konkret helfen?
Rudi Neuberth: In meinem Arbeitsalltag habe ich etwas gelernt. Das einfachste ist es, Armutsbetroffenen finanzielle Unterstützung zu geben. Schwieriger ist die seelsorgerische Arbeit. Aber am schwierigsten ist es, diese Menschen aus ihrer Isolation zu bekommen.

Andreas C. Müller

 

Paradies Schweiz – Realitäten und Visionen zu Armut und Reichtum in unserem Land

Ort: Reformiertes Kirchgemeindehaus, Gebenstorf
jeweils um 19.30 Uhr. Der Eintritt ist frei, Anmeldung nicht erforderlich.

Donnerstag, 24. Oktober:
Realitäten (mit Prof. Dr. Ueli Mäder, Autor des Buches «Wie Reiche denken und lenken»)

Donnerstag, 31. Oktober:
Kreative Ideen – gut umgesetzt (es stellen sich vor: das «Lernwerk», das «Christliche Sozialwerk Hope, «Cartons du Coeur», «Tischlein deck dich» sowie die «Schweizer Tafel»)

Donnerstag, 7. November:
Politische Vorstösse (unter der Leitung von Hans Fahrländer diskutieren zur Mindestlohn-Initiative der SP-Nationalrat Max Chopard und die SVP-Nationalrätin Sylvia Flückiger – zur 1:12-Initiative der SP-Nationalrat Cédric Wermuth und der Präsident der FDP Aargau Thierry Burkart)

Donnerstag, 14. November:
Wir fragen nach unserer Verantwortung und unseren Möglichkeiten als Kirche und Pfarrei.

 

 

Die Forderung nach Lohnobergrenzen und der Einführung eines gesetzlich garantierten Mindestlohnes sorgen aktuell für politische Kontroversen. Was braucht es Ihrer Meinung nach, um in der Schweiz Armut erfolgreich zu bekämpfen?

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