04.11.2020

Woche der Religionen
Wenn Körper, Geist und Seele den Weg zur Ruhe gehen

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Morgen Donnerstag, 5. November erscheint im Aargau die Zeitung «zVisite», eine interreligiöse Gemeinschaftsproduktion, an der auch Horizonte mitgestaltet.
  • «zVisite» kommt jährlich zur «Woche der Religionen» anfangs November heraus.
  • «Bewegung» lautet das Thema der aktuellen Nummer. Darin erzählen unter anderen Claudia Nothelfer und Susanne Andrea Birke über ihre jahrzehntelange Meditationspraxis.

Von Pilgern, Engagement und Tanz

In Zeiten des Stillstandes haben sich die «zVisite»-Redaktorinnen und -Redaktoren für das Thema Bewegung entschieden: Es war im März, als die Corona-Krise nicht nur das öffentliche, sondern auch das religiöse Leben lahmlegte.

Die Türen der Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel blieben für ihre Gläubigen verschlossen. Ostern feierten Christinnen und Christen zu Hause. Juden und Jüdinnen zelebrierten Purim nicht wie gewohnt in Gemeinschaft. Und nach Mekka pilgerten dieses Jahr nur ein paar Tausend anstelle der 2,5 Millionen Menschen.

In der aktuellen «zVisite»-Ausgabe, die am Donnerstag, 5. November, erscheint, sprechen zwei Frauen und zwei Männer über Erfahrungen auf ihrem Pilgerweg nach Rom, Madras, Santiago de Compostela und Mekka. Sie haben sich in der Verenaschlucht, einem Abschnitt des Jakobswegs, getroffen und sich ausgetauscht, wie die Wallfahrt sie verändert habe. Doch nicht nur eine körperliche Bewegung wie das Pilgern wirkt sich auf den Geist aus, sondern auch der Tanz, die Musik und die Meditation. Zudem enthält die Ausgabe Porträts von vier Menschen, die sich von ihrer Religion dazu bewegt fühlen, sich aktiv für die Gesellschaft zu engagieren. Für die Bewegung der Hirnzellen sorgt auch dieses Jahr Rätselmeister Edy Hubacher. Auf der zVisite-Webseite finden Sie zudem Videos und Audios als Ergänzung der Textbeiträge. Viel Vergnügen beim Lesen, Schauen und Hören! Nicola Mohler / mca

Claudia Nothelfer und Susanne Birke praktizieren Meditationsformen, die östliche und christliche Traditionen verbinden. Ob sitzend, stehend oder gehend: Der Atem führt die Bewegung und zentriert.

Claudia Nothelfer, Sie verbinden christliche Kontemplation mit buddhistischem Za­Zen. Welche Körperhaltung nehmen Sie beim Meditieren ein? Claudia Claudia Nothelfer: Wir sprechen sowohl von einer äusseren wie auch einer inneren Haltung. Diese beiden Körperhaltungen entsprechen dem Za-Zen, der Sitzmeditation: eine entspannte, gelöste Meditationshaltung, die dennoch Entschiedenheit ausdrückt. Der Körper ruht stabil auf einem Kissen oder einem Stuhl. Wirbelsäule und Kopf sind aufrecht, der Nacken lang, der Blick geht zum Boden. Die innere Haltung meint die Zentrierung im Atem, der natürlich fliesst, sowie das Ziehenlassen der Gedanken.

Und was bewirkt diese äussere Haltung im mentalen Bereich?
Claudia Nothelfer: Den klar geregelten Rahmen dieser Meditation habe ich zu Beginn meiner Praxis als streng und karg empfunden. Inzwischen bin ich seit 26 Jahren dran und überzeugt, dass diese klare Haltung tiefere Meditationserfahrungen erst ermöglicht. Pia Gyger, Mitbegründerin der Kontemplationsschule via integralis, sagte von dieser Haltung, sie sei die «via direttissima» in die Tiefe. Wir kommen in Verbindung mit unserer eigenen Seelentiefe und dem Urgrund des Lebens. Mit der Zeit zeigen sich eine Fülle von «Früchten», die in die Lebenshaltung hineinwirken, wie Mitgefühl, Achtsamkeit, Klarheit und Liebesfähigkeit. Wir sitzen nicht nur für uns, sondern für die Welt.

Die Bändigung des Bewegungstriebes, körperlich und gedanklich, ist also wichtig, um die Wirkungen dieser Meditation zu erfahren. Was ist schwieriger zu kontrollieren, der Körper oder der Geist?
Claudia Nothelfer: Das Schwierigste ist, gar nichts mehr zu kontrollieren, sondern einfach zuzulassen, seinzulassen und loszulassen. Es geht um das wohlwollende Wahrnehmen des Lebens im Hier und Jetzt. Die beschriebene Haltung hilft, dass Körper und Geist in Ruhe vereint sind und die Gedanken nicht ständig davonlaufen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Atem. Man kann nicht auf Vorrat atmen und nicht im Nachhinein. Atem fördert die Präsenz im Hier und Jetzt.

Könnte der Atem als Bindeglied zwischen Körper und Geist bezeichnet werden?
Susanne Birke: Ja. Der Atem kommt und geht von allein, wir können ihn aber willentlich verändern oder einfach nur bewusst wahrnehmen, ohne dabei einzugreifen.
Claudia Nothelfer: Bei der Zen-Sitzhaltung fliesst der Atem entspannt in den Bauch. Wenn der Körper gut im «Hara» verankert ist, laufen die Nervenbahnen vom Unterbauch über die gerade aufgerichtete Wirbelsäule hinauf bis in den Kopf. So fühlen wir uns geistig klar und können längere Zeit sitzen – ohne dabei zu ermüden.

Shibashi ist ein Bewegungsmantra, das von der Wiederholung lebt. Was bewirkt Bewegung mental?
Susanne Birke: Ein wichtiger Aspekt im Shibashi ist, sich durch einfache Körperbewegungen selbst zu harmonisieren und sich mit dem Ganzen zu verbinden – mit den Menschen, mit der Welt, mit dem Urgrund, aus dem alles kommt. Weil diese Erfahrung über den Körper aufgebaut wird, fördert Shibashi ein klares, positives Ja zur Leiblichkeit.

Fällt der Zugang zum Meditieren leichter, wenn er über die Bewegung geschieht?
Susanne Birke: Das ist sehr individuell. Menschen haben unterschiedliche Körper, und sie machen verschiedene Erfahrungen mit ihrer Leiblichkeit. Einzelne Bewegungen können erst einmal schwerfallen oder manchmal auch unangenehme Gefühle auslösen. Dadurch erfahren wir etwas über uns selbst. Welche Meditationsform aber etwas auslöst, ist eine Typfrage. Und welche Bewegungen einem zusagen, ist nicht zuletzt abhängig von der Lebensphase und den Themen, die einen gerade aktuell beschäftigen.

Warum?
Susanne Birke: Ein persönliches Beispiel: Ich konnte in jungen Jahren mit dem Begriff Demut gar nichts anfangen. Heute aber hat Demut für mich einen Sinn bekommen, und ich verneige mich körperlich und geistig vor dem Geheimnis des Lebens. Einerseits erkenne ich mit der Verneigung meine eigene Begrenztheit gegenüber dem grossen Ganzen an, andererseits bin ich mir aber auch bewusst, selbst Teil dieses Geheimnisses zu sein.

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