14.01.2021

Caritas Aargau sensibilisiert: Prekäre Arbeitsbedingungen in der Schweiz
Wenn man von der Arbeit nicht leben kann

Von Andreas C. Müller

  • Am 24. Januar ist wieder der Sonntag von Caritas Aargau – Gelegenheit für das renommierte kirchliche Hilfswerk, sich als Stimme der Armen und Benachteiligten Gehör zu verschaffen.
  • In diesem Jahr richtet Caritas Aargau das Augenmerk auf schlechte Arbeitsbedingungen in  der Schweiz. In immer mehr Branchen gebe es keine fairen Verträge. Und die Entlöhnung sei so schlecht, dass man davon nicht leben könne.

So hilft die Caritas

Auch während der Corona-Pandemie berieten die Angestellten von Caritas Aargau Menschen in Notsituationen. | © Caritas Aargau

Nothilfe: Mittels finanzieller Soforthilfe für ausstehende Krankenkassenprämien oder Mietzinsrechnungen half die Caritas vielen Menschen in prekären Lagen durch die ärgste Not.
Beratung: Caritas Aargau begleitet Menschen und Familien, die armutsbetroffen oder armutsgefährdet sind. Gerade in aussichtslos erscheinenden Situationen kann es entlastend sein, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Beratungsangebote sind freiwillig und kostenlos.
Vergünstigungen: Mit der KulturLegi ermöglicht die Caritas Personen mit wenig Geld Zugang zu stark vergünstigten Bildungs-, Kultur- und Sportangeboten. Die Rabatte betragen 30–70% auf Angebote wie Musikunterricht, Jahresabo einer Tageszeitung oder die Jahreskarte einer Bibliothek.

Für Unterstützung von Armutsbetroffenen ist Caritas Aargau auf Spenden angewiesen

Caritas Aargau schlägt Alarm: Immer mehr Menschen arbeiten unter prekären Bedingen. Der bezahlte Lohn sichert die Existenz nicht, oftmals kommt er zudem verspätet oder man wird nur noch im Stundenlohn beschäftigt. «Die Betroffenen sind meist auch nur mangelhaft abgesichert gegen Jobverlust und haben stark eingeschränkte Zukunftsperspektiven», heisst es bei Caritas Aargau. Infolge der Corona-Pandemie hätten zudem viele ihren Job verloren.

Mit falschen Versprechungen geködert

So auch Nemeth (Name von der Redaktion geändert). Der zweifache Familienvater ist seit August arbeitslos. In seinem letzten Job arbeitete er im Aussendienst und vertrieb Haarkosmetik. «Mir sind falsche Versprechungen gemacht worden», erinnert er sich. Zu einem Fixum von 3’000 Franken hätte er, in Abhängigkeit zum erzielten Umsatz, monatlich einen Bonus erhalten sollen: 2’000 Franken bei 20’000 Franken Umsatz. «Das war beim besten Willen nicht zu schaffen», erinnert er sich und sagt: «Ich erhielt auch nicht wie versprochen den Raum Zürich als Arbeitsgebiet.»

Nach einiger Zeit kam der Lohn nicht mehr pünktlich. Und Lohnabrechnungen habe er auch keine mehr gesehen, so Nemeth. «Ich konnte ich meine Miete nicht mehr pünktlich bezahlen, und mit den Krankenkassenprämien sind wir auch in Rückstand geraten.» Obwohl Nemeths Frau im Einzelhandel arbeitet und gute Arbeitsbedingungen hat, reichte es nicht mehr, als Nemeth gekündigt wurde. Der Arbeitgeber machte wirtschaftliche Gründe geltend. Die Familie landete schliesslich bei der Caritas, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte.

Von heute auf morgen entlassen

Ali (Name von der Redaktion geändert) arbeitete für die bekannte Schweizer Hotelkette Sorell, als «Night Auditor» im Stundenlohn, in zwei verschiedenen Häusern. «Ich durfte arbeiten, wenn die Festangestellten ihre Freitage hatten oder Ferien nahmen. Als Corona kam, war plötzlich fertig – von einem Tag auf den anderen. Für Ali, ebenfalls Vater, bedeutete das eine Katastrophe. Seine Frau hat keine bezahlte Arbeitsstelle, sie kümmert sich um die Kinder. Als die ersten Betreibungen kamen, suchte die Familie Hilfe bei der Caritas.

Diana Auer erlitt während des Lockdowns einen Nervenzusammenbruch. Die alleinerziehende Mutter arbeitete als Tagesmutter für den Verein «Tagesfamilien Brugg und Umgebung» und betreute vier Kinder in Ergänzung zu ihren eigenen beiden Sprösslingen. «Auf diese Art und Weise konnte ich Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen», sagt sie. Der Lohn betrug Fr. 6.50 pro Kind und Stunde. Sie habe gefühlt mehr gearbeitet als die vereinbarten 70 Prozent. Zudem habe Sie vom Verein «Tagesfamilien Brugg und Umgebung» zu wenig Unterstützung erhalten in der schwierigen Corona-Zeit und auch im Umgang mit den Ansprüchen der Eltern.


Zu liberale Arbeitsgesetzgebung?

Drei Schicksale von vielen. Die Caritas ortet das Problem in der liberalen Schweizer Arbeitsgesetzgebung, die nur einen schwachen Kündigungsschutz bietet und keine obligatorische Krankentaggeldversicherung beinhaltet. Ausserdem seien ganze Sektoren, wie die Landwirtschaft oder Hauswirtschaft, nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt. Das gelte auch für Arbeitsformen, die über Online-Plattformen organisiert würden. Das sind beispielsweise Reinigungs- und Kurierarbeiten. Auch Diana Auer kam zu ihren Betreuungsaufgaben über eine Plattform.

Problematisch sind, laut Caritas, Arbeiten auf Abruf, der schlechte Lohn und die mangelhafte Absicherung gewisser Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Altersarmut. Laut Bundesamt für Statistik, findet sich prekäre Arbeit überdurchschnittlich häufig in den klassischen Tieflohnbranchen, beispielsweise im Gastgewerbe, in der Reinigung, aber auch in der Dienstleistungsbranche oder im Kunstbetrieb. Betroffen sind oftmals Frauen, jüngere Arbeitnehmende, Personen mit tiefem Bildungsstand und Menschen ohne Schweizer Pass. Nemeth, Ali, aber auch Diana haben im Zuge der Coronakrise ihre Arbeit verloren. Die Chancen stehen schlecht, dass sie bald einen neuen Job finden.

Was sagen die Arbeitgeber?

Bei der schweizweit bekannten Hotelkette Sorell, einem ZFV-Unternehmen (entstanden aus der Zürcher Frauenbewegung), sollen auch für komplexere Aufgaben über längere Zeit keine festen Arbeitsverträge ausgestellt werden (siehe Bericht). Die ZFV-Unternehmungen lassen, damit konfrontiert, ausrichten: «Seine Rolle als verantwortungsvoller Arbeitgeber nimmt der ZFV sehr ernst. So ermöglichen wir mit Teilzeitstellen und regulären Arbeitszeiten vielerorts die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Und unsere Mitarbeitenden sind in vielerlei Hinsicht gegenüber dem Gesamtarbeitsvertrag im Gastgewerbe L-GAV besser gestellt. Was die konkreten Anstellungsbedingungen einzelner Mitarbeitenden anbelangt, richten sich diese nach Aufgabe, Funktion und Betriebsart. So beschäftigen wir sowohl Mitarbeitende mit einem fixen Arbeitspensum, wie auch im Stundenlohn. Dies wird von den Mitarbeitenden sehr geschätzt und passiert immer im gegenseitigen Einverständnis zwischen Mitarbeiter und ZFV.»

Müssen Tagesmütter als Angestellte des Vereins «Tagesfamilien Brugg und Umgebung» mehr als vereinbart arbeiten und erhalten diese zu wenig Unterstützung bei herausfordernden Arbeitssituationen, etwa im Umgang mit den Ansprüchen der Eltern? Eine entsprechende Anfrage beim Verein blieb unbeantwortet.

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