02.10.2014

Wie ein Sechser im Lotto

Von Horizonte Aargau

Von Kindesbeinen an hatte die Mutter zweier erwachsener Kinder mit einer Herzerkrankung gelebt. Dass letztlich nur noch eine Transplantation ihr Leben würde retten können, war für Marianne Urech Drohung und Hoffnung zugleich. Im Interview mit Horizonte schildert die 52-Jährige, wie sie mit der Situation umging, welche Fragen sich rund um das mögliche Ende, das Geschenk eines neuen Lebens und das Wissen um ein begrenztes Dasein stellten.

Sie leben jetzt seit 15 Jahren mit einem transplantierten Herzen. Wie fühlt sich das an?
Marianne Urech: Ich hätte nie gedacht, dass das so gut herauskommt. Im Vergleich zu vor der Operation kann ich den Alltag viel besser bewältigen. Ich arbeite wieder 50 Prozent, engagiere mich in der Freiwilligenarbeit, mache den Garten, wandere gerne und fahre Ski. Theoretisch könnte ich auch Sport treiben, aber ich bin ein Bewegungsmuffel (lacht). Das war ich schon immer…

Wie kam es dazu, dass Sie auf ein neues Herz angewiesen waren?
Obschon bereits als Kind eine ungewöhnliche Herzform und etwas eingeschränkte Leistung festgestellt wurden, hat mich das nie gross. belastet. Ich durfte im Turnen nur das machen, was mir nicht zu streng war, ansonsten hatte ich nie Probleme. Als ich 25 Jahre alt war, wurde bei mir dann eine Krankheit diagnostiziert. Es hiess, Fettzellen würden sich im Herz einlagern. Dadurch würde mein Herz unaufhaltsam schwabbeliger und kraftloser. Das sei irreversibel und würde wohl auf lange Sicht eine Transplantation bedeuten.

Was hiess das für Sie?
Zunächst einmal: Ich war damals schon vier Jahre verheiratet, wir wünschten uns eigentlich Kinder. Das sei zu gefährlich, meinte der Arzt.

Aber Sie haben doch zwei Kinder.
Ja, wir hatten ein Riesenglück: Wir konnten einen Buben und ein Mädchen adoptieren. Das war 1990 und 1992. Also drei Jahre nach dem Befund.

Bis zur Transplantation hat es dann aber noch knapp 10 Jahre gedauert. Ging es Ihnen so lange noch gut?
Erst ab 1997 machten sich Probleme bemerkbar. Während der Adventszeit, bin ich beim Einkaufen fast zusammengeklappt. Meine Wahrnehmung war ganz komisch, die Musik im Kaufhaus dröhnte. Ich torkelte regelrecht. Dann ging’s plötzlich wieder. Aber der Arzt meinte hernach, das war Herzkammerflimmern und ging knapp am Tod vorbei. Als Folge wurde ein kleiner Defibrillator eingesetzt.

Das hat dann funktioniert?
Ich habe die Operation nur schlecht überstanden, war sehr geschwächt. Als Folge der Operation erlitt ich einen Hirnschlag. Das Besondere dabei: Es geschah am Karfreitag und am Ostersonntag war der ganze Spuk wieder vorbei…

Also ein ganz besonderes Ostererlebnis, gewissermassen…
Ja, schon. Ich merkte, etwas stimmte nicht. Ich wusste nicht mehr, wie das Telefonieren geht. Ich habe sofort wieder vergessen, was ich getan habe. Oder rechnen… Ich wusste: Zwei plus zwei, das ist eine ganz einfache Rechnung, aber ich konnte es nicht…

Und an Ostern war alles wieder wie vorher?
Ja, was das betrifft. Aber nach und nach wurde ich immer schwächer. Konnte letztlich kaum noch ein paar Meter gehen, ohne dass ich völlig ausser Atem war. Ohne Hilfe im Haushalt schaffte ich es nicht mehr. Eltern, Nachbarn und Freunde halfen bei der Kinderbetreuung, machten die Wäsche und immer wieder durften wir uns an einen gedeckten Tisch setzen. Eine Transplantation war unausweichlich geworden.

Das war dann etwa ein Jahr nach der ersten Herzoperation. Wie lange mussten Sie auf ein Spenderherz warten?
Nur sechs Wochen. Ich bekam einen Pager, hatte gepackte Koffer. Die Freude war riesig, als an einem Montagabend nach einem gemütlichen Spaghetti-Essen mit der Familie der Telefonanruf kam, ob ich in einer Viertelstunde bereit sein könne.

Hat Sie belastet, dass jemand sterben muss, damit Sie leben können?
Ich habe das nie so empfunden. Ich habe das stets so gesehen, dass sich jemand entschieden hat, unabhängig davon, was mit ihm passiert, seine Organe weiterzugeben. Ich habe mich auch nicht so daran geklammert, dass ich ein Herz bekomme. Ich hätte keine Mühe gehabt, zu gehen. Gehofft habe ich aber schon darauf, schon wegen meiner Kinder und meines Mannes, die dann ohne mich zurückgeblieben wären.

Eine derartige Gelassenheit ist ja schon speziell.
Ich hatte nie Angst und bis zu diesem Zeitpunkt ein wunderbares Leben. Und ich bin nicht ein Mensch, der sich viele Sorgen um sich selber macht. Das ist eine Einstellung, die mir geschenkt wurde. Ich weiss nicht warum… andere machen sich viel mehr Sorgen.

Aber in Anbetracht des Todes doch etwas Besonderes. Haben Sie ein gutes Gottvertrauen?
Ja, schon. Und ich habe auch nicht das Gefühl, dass nach dem Tod fertig ist. Ich kann ja nicht konkret sagen, was dann kommt, aber es wird dann wohl so sein, dass ich dann bei Gott bin. So jedenfalls stelle ich es mir vor.

Als Sie mit einem fremden Herzen aufgewacht sind. Wie haben Sie das erlebt?
Als ich erwachte, spürte ich das Herz schlagen bis in den Kopf und dachte, das ist vielleicht doch nicht so gut, wenn das so ist. Berauschend war aber, wie ich alsbald eine enorme Kraft spürte gegenüber vorher… als ob sich mir wieder die Welt auftat. Alles ging wieder so leicht, so beschwingt… Manchmal war mir zum Heulen vor Freude. Und ich war fasziniert und unendlich dankbar, dass so etwas möglich ist.

Man weiss, dass viele Transplantierte unmittelbar nach ihrer Operation in eine psychische Krise stürzen. Das haben Sie demnach nicht erlebt?
Doch. Ich hatte plötzlich Wahnvorstellungen und war total gereizt. Ich hörte Rockmusik, die es nicht gab und musste miterleben, wie Spitalpersonal bei mir im Zimmer eine Party feierte. Auch das habe ich mir nur eingebildet. Schliesslich habe ich nur noch herumgeschimpft.

Wie haben Sie das überwunden?
Als meine Kinder mich wider die Regeln auf der Intensivstation besuchen durften, war der ganze «Spuk» wie auf Knopfdruck vorbei und ich wieder völlig «normal».

Hatten Sie nie die Idee, dass über ihr neues Herz etwas Fremdes sie verwirrt haben könnte? Eine Art von Besessenheit oder so etwas?
Nein, nie. Ich glaube auch nicht, dass die Seele im Herz wohnt oder so… Für mich ist das Herz ein Muskel, bestimmt nicht wichtiger als andere Organe.

Wie haben Sie sich denn mit Ihrem neuen Herzen angefreundet?
Ich hatte nie irgendwelche Zweifel oder das Bedürfnis, speziell eine Beziehung zu diesem Herz aufzubauen. Nicht so wie jene Lungenkranke, die ich im Spital kennen gelernt habe, als bei mir die Abklärungen für eine Transplantation gemacht wurden. Eine ganz spannende Frau, die mich quasi «in den Spitalbetrieb eingeführt hat». Die hat mit ihrer neuen Lunge geredet. Da ist halt jeder verschieden.

Und Gefühle darüber hinaus? Dankbarkeit, dass Sie quasi dem Tod «ab dem Karren» haben springen können?
Ja, das schon. Immer wieder, wenn ich etwas Schönes erlebe… Dann wird mir bewusst: Das ist nur möglich dank diesem Herzen. Und ich habe auch anonym der Familie des Spenders geschrieben. Nach fünf Jahren habe ich das getan, ich habe extra gewartet… Und ich bekam sogar Antwort… auf Französisch. Man sei froh, dass das Geschenk Sinn mache, hiess es.

Aber Sie haben nie mehr über den Spender oder die Spenderin erfahren?
Nein, auch wenn ich mich zu Beginn oft gefragt habe, von was für einem Menschen ich wohl das Herz erhalten habe. Wenn ich damals durch die Stadt ging, habe ich mich immer wieder gefragt, wenn mir jemand auffiel: War es wohl von so einem Menschen? Oder eher von diesem da?

Es heisst, Spenderorgane haben eine begrenzte Lebensdauer.
Man hat mir gesagt, dass man 10, 15 Jahren mit einem Spenderherz leben kann. Mehr Erfahrung hatte man damals noch nicht. Heute kenne ich jemanden, der bereits seit 30 Jahren herztransplantiert ist – das ist doch eine Perspektive!

Das heisst, Sie haben im Grunde eine begrenzte Lebenserwartung.
Mein Leben ist realistischerweise kürzer als das von anderen, aber das macht mir keine Angst. Gut, ich könnte ja nochmals ein neues Herz bekommen, aber ich weiss nicht, ob ich das will. Vielleicht ist’s auch gut, sich dann zu verabschieden. Andererseits: Noch Enkel zu sehen, das wäre schon auch toll.

Viele leben sorglos in den Tag hinein, weil sie noch nicht mit ihrem Lebensende konfrontiert werden. Bei Ihnen ist das anders. Leben Sie dadurch bewusster?
Ich lebe insofern bewusst, als dass ich mir bestimmt nicht überlege, was ich denn alles mal nach der Pensionierung machen will. Wenn ich auf etwas Lust habe, dann schaue ich, dass ich das lieber früher als später realisieren kann. Und das Wichtigste: Ich fühle mich komplett gesund und mir geht es sehr gut. Insofern hatte ich auch bei dieser Herzsache ein Riesenglück. Wenn mich wieder jemand anruft und fragt, ob ich denn nicht Lotto spielen will, antworte ich immer: «Nein, ich habe schon gewonnen: Einen lieben Mann, zwei wunderbare Kinder, ein neues Herz.»

Andreas C. Müller

Themen Interviews
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