02.11.2020

Streit um kirchliches Engagement zugunsten der Konzernverantwortungsinitiative
«Wir sind doch kein netter Dorfverein!»

Von Christian Breitschmid und Andreas C. Müller

  • Die Konzernverantwortungsinitiative spaltet die Kirchen. Seelsorgende predigen zur Annahme des Vorstosses, derweil sich Gläubige und Vertreter der Politik über ein derartiges Engagement empören.
  • Horizonte brachte den Fricktaler Seelsorger Patrik Suter, Befürworter der Initiative, und Marianne Binder, CVP-Nationalrätin und Gegnerin der Initiative, zu einem Gespräch zusammen.

Stolperstein Beweislastumkehr?

Ein Kommentar von Andreas C. Müller, Redaktionsleitung

Ganz klar: Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden dürfen Schweizer Unternehmen nicht verursachen. Immerhin versteht sich die Schweiz als Land, das zur Umwelt Sorge trägt und vehement gegen Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen vorgeht. Humanität gilt spätestens seit Henry Dunant und der Beherbergung der UNO als ein Wert, dem sich unser Land verpflichtet fühlt und wofür es sich auch im Ausland einsetzt. Wohl nicht zuletzt deshalb erfährt die Konzernverantwortungsinitiative bei uns derart bereite Zustimmung.

So weit, so schön. Im Grunde alles klar! Ja zur Initiative. Doch halt! Immer wieder führen die Gegner die Beweislastumkehr ins Feld, welche für Unternehmen hinsichtlich Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen nach Annahme der Initiative gelten soll. Auch wenn es sich nur um die Sorgfaltspflicht und nicht auf einen allfälligen Schaden bezieht, widerspricht dies dem rechtsstaatlichen Grundprinzip, wonach jemand so lange als unschuldig gilt, bis ihm das Gegenteil bewiesen werden kann.

Bei Annahme der Initiative müssten Schweizer Unternehmen und deren Töchter im Ausland im Schadensfall beweisen, dass sie alles Notwendige zu dessen Vermeidung unternommen haben. Dass das Folgen gerade für kleinere, mit dem Ausland verflochtene Betriebe hat, liegt auf der Hand. Oder wie würden Sie sich künftig verhalten, wenn Sie wüssten, dass Sie bei allfälligen Anschuldigungen nicht mehr als unschuldig gelten, bis man ihnen das Gegenteil bewiesen hat, sondern gezwungen sind, den Unschuldsbeweis zu erbringen?

Herr Suter, Sie engagieren sich persönlich, aber auch als Seelsorger für die Konzernverantwortungsinitiative. Das heisst, Sie haben mit Ihrem Team Banner montiert, Flyer verteilt und auch schon zum Thema gepredigt?
Patrik Suter:
Als Bürger und Person setze mich schon seit zweieinhalb Jahren mit dieser Initiative auseinander und bin zum Entschluss gelangt, dass ich sie unterstütze. Das sieht man an den Bannern an unserem Heim oder am Velo-Wimpel. Dies aus ethischem Grund. Als Christ beziehe ich mich auf die biblische Botschaft. In ihr kann ich lesen, dass der Schutz der Schwachen und Armen ein durchgehendes Thema ist und ebenso die Sorge um unsere Schöpfung. Wir haben das ja auch als Präambel in der Bundesverfassung: Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.

Es ist ja auch nicht Ihr persönliches Engagement für die Initiative, das Anstoss erregt, sondern das des Seelsorgers. Frau Binder, Sie halten nichts von einem derartigen politischen Engagement der Kirche. Warum?
Marianne Binder:
Die Absichten der Initianten sind gut. Sie führten dazu, dass die Sorgfaltspflichten verschärft wurden. Der Gegenvorschlag des Parlamentes nimmt ja genau diese Bemühungen auf, die man auch im europäischen Bereich unternimmt. Was die Kirchenmitarbeitenden betrifft: Sie sind Staatsbürger wie alle anderen auch und dürfen sich als solche auch äussern, das ist keine Frage. Mich irritiert, dass sie es im Namen der Kirche tun. So eine massive Kampagne hat es nun wirklich noch selten gegeben. Die Kirche soll vereinigen und nicht spalten und keine Politik von der Kanzel betreiben, indem man den einen sagt: «Ihr seid gute Christen» und den anderen: «Ihr seid keine guten Christen.» Es gibt als gute Christin Argumente für die Initiative, aber ebenso Argumente dagegen.
Patrik Suter:
Bei uns wurden noch keine Flyer in der Kirche aufgelegt, und wir werden voraussichtlich auch kein Banner an den Kirchturm hängen, wie Sie vorhin gesagt haben. Es stimmt aber: Ich erscheine als Unterstützer auf der Website «Kirche für Konzernverantwortung». Ich habe dazu auch schon gepredigt. Ich will meine Position aber nicht missbrauchen, um irgendwelche Parolen rauszugeben oder die Leute auf irgendetwas einzuschwören. Ich appelliere lediglich an das Wissen und Gewissen der Menschen und lasse ihnen dann, um Gottes Willen, den freien Entscheid.

Die Aargauer CVP-Nationalrätin Marianne Binder-Keller. | © Roger Wehrli

Dass sich die Kirchen derart aus dem Fenster lehnen, ist ja schon etwas Neues. Warum geschieht das gerade bei der Konzernverantwortungsinitiative?
Marianne Binder
: Weil die Kirchen als Institutionen offenbar immer mehr das Bedürfnis haben, auch in der Tagespolitik mitzubestimmen. Vielleicht in der Hoffnung, dass sie dann für die Gläubigen attraktiver sind. Aber viele treue Mitglieder der Kirche sind vor den Kopf gestossen, wenn mit ihren Steuergeldern eine Kampagne gegen die eigenen Mitglieder gefahren wird. Dass sie dann mit Kirchenaustritt drohen, ist schade. Wer austritt, kann nicht mitreden. Die Kirchen erfüllen eine wertvolle und zentrale Aufgabe in der Gesellschaft.
Patrik Suter:
Ich glaube, es steckt eine grosse Evidenz in dieser Initiative, die sich aus der christlichen Offenbarung ergibt. Darum fühle ich mich von den Aussagen Frau Binders auch wenig getroffen. Ich will keine Kampagne machen, keine Parteipolitik oder eine Mehrheit erreichen unter Missachtung des Individuums. Aber man muss nicht einmal Christ sein, um die goldene Regel zu erkennen: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füge keinem anderen zu. Das ist genau mein Ansatz. Darum möchte ich die Menschen dazu einladen, in einer Predigt – und das ist nun mal das Proprium eines Seelsorgers – darüber nachzudenken und zu einem Schluss zu kommen.
Marianne Binder:
Vielen innerhalb der Kirche darf das ein wichtiges Anliegen sein, aber die Kirche ist keine politische Partei, sie ist eine Gemeinschaft der Gläubigen, die für alle da ist.
Patrik Suter:
Ich habe mir da nichts vorzuwerfen. Ich habe am Ende meiner Predigt gesagt und bewusst gemacht, dass wir alle in diesem Wirtschafts- und Nutzniesserkreislauf sind. Darum können wir uns als Theologen nicht einfach mit einem lachenden Gesicht irgendwo abbilden lassen, sondern müssen uns bewusst sein, dass all das auch eine Konsequenz für uns hat. Wir sind keine politische Partei, da hat Frau Binder recht. Aber das Evangelium fordert uns heraus, immer wieder Partei zu ergreifen. Die Pfarrei, die das plakativ an ihrem Kirchturm tun will, soll das tun. Wir werden das in Oeschgen nicht machen, weil wir diese Entscheidung dem Gewissen und dem Bürgersinn jedes Christen überlassen wollen.

Frau Binder, es fällt auf, dass von Seiten der CVP mittlerweile klarer als von jeder anderen Partei postuliert wird, dass sich die Kirche aus der Politik heraushalten sollte. Warum? Immerhin galt die CVP lange mit ihrem «C» als konfessionelle, später als überkonfessionelle, kirchennahe Partei.
Marinanne Binder:
Wenn die Entwicklung der CVP und des Wählerschwundes in den letzten vierzig Jahren etwas zeigt, dann, dass das Konfessionelle in der Politik halt schon sehr skeptisch beurteilt wird. Wir werden als katholische Partei wahrgenommen. Da können wir lange erklären, wir seien nicht die Kommunikationsabteilung des Vatikans. Mit der Öffnung der CVP und dem neuen Namen «Die Mitte» verändern wir nicht einen einzigen unserer christlich-abendländischen Werte, können nun aber über Politik sprechen und nicht immer auch noch über Religion. Der Einfluss der Kirchen auf die Politik ist kleiner geworden, das müssen sie akzeptieren. Die klare Trennung von Kirche und Staat ist richtig. Auch für die Kirchen.

Was darf denn Kirche noch? Wäre Lobbyismus etwa denkbar? Zum Beispiel Martin Werlen in der Wandelhalle oder Patrik Suter, der Ihnen und Ihren Ratskollegen christliche Gedanken zu Politgeschäften empfiehlt?
Marianne Binder:
Ich bin ja selbst Mitglied einer Kirche. Ich trage diese Botschaft auch mit. Nochmals: Mitarbeiter der kirchlichen Institutionen sind Staatsbürger wie Sie und ich. Sie dürfen und sollen ihre Anliegen vertreten. Ich schätze die Kirchen für ihre wertvolle Arbeit, die Seelsorge, die Gemeindearbeit, nicht zuletzt auch für den Erhalt der Kirchen als Kulturgut. Ich schätze die Kirchen auch für die Konservierung von Werten, die im Zeitgeist schnell verloren gehen. Aber ich lehne Kampagnen ab, die im Namen der Kirche geführt werden, bei denen die Hälfte der Mitglieder anders denkt.

Sie haben es gehört, Herr Suter: Frau Binder meint, sie unterschieden in Ihren Predigten die guten von den schlechten Christen.
Patrik Suter
: Ich habe schon zweimal versucht zu sagen, dass ich das eben nicht tue. Ich beurteile keinen Menschen oder richte über ihn. Man kann mir zuhören und sich darüber Gedanken machen. Ich bin weit davon entfernt, irgendwelche Parolen durchzupeitschen. Das ist mir wichtig.
Marianne Binder
: Es gibt vorgeschriebene Predigten. Am Bettag wurde aufgefordert, Flyer mitzunehmen. In der Berner Heiliggeistkirche hat gar Alec von Graffenried gepredigt. Sehen Sie denn diese massive Kampagne der Kirchen nicht?
Patrik Suter: Doch, doch, es gibt sicher einige Personen, die stärker diese politische Kruste repräsentieren. Aber ich gehe davon aus, dass sich diesen Personen dies eben erschliesst. Ich habe das Gefühl, dass wir für Sie, Frau Binder, so etwas sind wie eine Art netter Dorfverein, der sich mit Fronarbeit und sozialem Austausch bei der Stange hält. Sie haben die Konservierung von Werten genannt. Irgendwann muss man diese Konservendose allerdings öffnen und ihren Inhalt umsetzen. Die christliche Botschaft hat immer auch eine politische Spitze. Es wundert mich nicht, dass die Kirche hier sehr stark auftritt und plötzlich auch als Macht wahrgenommen wird. Das ergibt sich aus der Evidenz der christlichen Botschaft.

Patrik Suter, Seelsorger in Ausbildung, Oeschgen | zvg

Dann kann man sich aber schon fragen, warum die Kirche nicht denselben starken Auftritt für Armutsbetroffene im eigenen Land hinlegt.
Patrik Suter:
Also da sage ich: Das eine tun und das andere nicht lassen. Die sehr mächtigen, globalen wirtschaftlichen Zusammenhänge haben eben auch Ausstrahlung auf kleine Räume. Aber man soll schon darauf achten, dass man nicht zum Heuchler wird. Wir sind jeden Tag herausgefordert, das zu tun, was wir nach unserer Wertehaltung tun sollten.

Herr Suter, die Linke, also SP und Grüne, freut sich über dieses Engagement der Kirche…
Marianne Binder
: …Ja genau, vor allem jene, die aus der Kirche ausgetreten sind! Für die erwähnte Kampagne ist die Kirche jetzt plötzlich wieder recht. Das sind dieselben Leute, mit denen ich nachher wieder auf Podien sitze und die katholische Kirche verteidige, wenn sie wieder wegen irgendetwas angegriffen wird.
Patrik Suter:
Solche Bündnisse oder Sympathiekundgebungen sind für mich von geringem Wert. Verstehen Sie mich richtig: Ich sehe durchaus auch die Defizite unserer Kirche. Ich sehe auch die Abhängigkeit vom Geld in unserem dualen System. Es ist doch zum Beispiel interessant, dass sich im Kanton Zug nahezu niemand aus dem kirchlichen Bereich zu dieser Initiative geäussert hat.

Ein guter Hinweis. Ist es nicht Heuchelei, wenn die Kirchen sich im Aargau öffentlich engagieren, aber im Kanton Zug stillhalten?
Patrik Suter
: Das wirft ein sehr übles Licht auf uns als Kirche. Das zeigt schon, wie stark wir von monetären Zuwendungen abhängig sind. Das beschämt mich.
Marianne Binder
: Das ist jetzt aber ein massiver Vorwurf, Herr Suter. Das heisst also, wenn man sich von Kirchenseite nicht für die Initiative einsetzt, dann ist das beschämend?
Patrik Suter
: Aber es ist doch so, dass Glencore in Zug einen Löwenanteil an Kirchensteuern einwirft. Da ist man doch in einem Interessenkonflikt. Ich will auch hier nicht urteilen. Ich weiss nicht, was ich täte, wenn ich in Zug wäre. Aber diese Spannung muss man wahrnehmen.
Marianne Binder:
Nun muss ich doch zum ethischen Aspekt dieser Initiative noch etwas sagen: Wirtschaft sind wir doch alle. Die Wirtschaft ist nichts, das neben uns steht und das Böse verkörpert. Wirtschaft, das sind unsere Arbeitsplätze und unser unternehmerisches Handeln – auch weltweit. Die Initiative stellt die Unternehmen in der Schweiz unter Generalverdacht. Das verstehen viele Kirchenmitglieder, die selber auch Unternehmer sind, nicht. Unsere KMU sind wirtschaftlich weit verflochten, da geht es nicht nur um grosse, böse Konzerne.

Gibt es eine theologische Rechtfertigung dafür, sich als Kirche politisch so zu engagieren, dass sich einzelne Mitglieder mit ihrer Auffassung nicht abgeholt fühlen?
Patrik Suter:
Da muss ich zuerst noch etwas zum Thema Wirtschaft sagen: Es ist ganz klar, wir sind Teil der Wirtschaft, und ich will nicht den Eindruck von Wirtschaftsfeindlichkeit erwecken. Auch die christliche Botschaft sieht im Wirtschaften und Gewinnerzielen grundsätzlich etwas Gutes. Es geht ja nur um jene Player, die auf grobe Weise Menschenrechte und Umweltstandards missachten. Wer ethisch sauber wirtschaftet, kann sich zurücklehnen und hat nichts zu befürchten.
Marianne Binder
: Das Problem ist aber die Umkehr der Beweislast: Jeder kann, von irgendwo auf der Welt, eine Klage einreichen. Weil, nach Meinung der Initianten, die Leute vor Ort kein Geld für eine Prozessführung haben, soll die Schwelle dafür möglichst niedrig sein. Dann muss ein Schweizer Richter in irgendeinem Land nachforschen, ob die Vorwürfe zu belegen sind oder nicht. Dabei steht das Unternehmen unter Generalverdacht, denn es muss erst einmal beweisen, dass es alle Sorgfaltspflichten erfüllt hat. Kann es das nicht, haftet es. Entgegen der Behauptungen der Initianten sind auch die KMUs von der Haft nicht ausgeschlossen. Und selbst bei einem Freispruch bleiben Reputationsschäden. Was diese Initiative will, ist weltweit einmalig.
Patrik Suter
: Nach meinem Kenntnisstand ist das kein globaler Einzelgang der Schweiz. Mindestens Frankreich und Holland haben etwas Ähnliches.
Marianne Binder:
Ja, das, was der Ständerat jetzt vorschlägt.
Patrik Suter:
Aber dieser Vorschlag ist zahnlos.
Marianne Binder:
Warum zahnlos? Der Vorschlag führt neue Meldepflichten und neue Sorgfaltspflichten im Bereich der Konfliktmineralien und bei der Kinderarbeit ein. Bei Verletzung gibt es Bussen. Aber die Umkehrung der Beweislast gibt es nicht.

Lesen Sie hier. Wie sich dir Kirche mit dem Engagement für die Konzernverantwortungsinitiative schwer tut

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.