03.12.2014

Wo die Religionen nicht trennen

Von Horizonte Aargau

Krieg und Terror bestimmen die Nachrichten aus dem Nahen Osten. Dass es auch anders geht, zeigt ein Zentrum für die Verständigung unter den Religionen in Haifa. Hier wächst aus Misstrauen Freundschaft.

Sie mögen sich offensichtlich nicht leiden. Fromme Juden beten am Freitagabend an der Mauer des zerstörten ersten Tempels in Jerusalem, ihrem höchsten Heiligtum. Vom darüber liegenden Ostteil der Stadt schleudern muslimische Araber Steine gegen die Andächtigen. Aus Syrien und dem Irak werden zehntausende von Christen von Dschihadisten, islamischen Kämpfern gegen die «Ungläubigen», vertrieben.

Den Dialog fördern
Weltanschauungen und Religionen prallen hart aufeinander. Was nicht sein muss und nicht sein sollte. «Jeder Mensch hat das Recht, anders zu sein», zitiert Motti Peri den amerikanischen Philosophen John Dewey. Motti Peri ist Generaldirektor des Beit Ha Gefen in Haifa, der 360’000 Einwohner zählenden Hafenstadt im Norden Israels. Das «Haus der Rebe» – es heisst so, weil an seiner Wand Trauben wachsen – setzt sich seit 1963 für einen friedlichen Dialog unter den drei grossen monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judentum ein. Beit Ha Gefen will die verschiedenen Identitäten dieser Religionen «ehren und zu deren Verständigung untereinander hinführen». Sarah Vadar von der Baha’i-Gemeinschaft, die ihren Hauptsitz in Haifa hat und eng mit Beit Ha Gefen zusammenarbeitet, verweist energisch darauf, dass die drei grossen Religionen biblisch den gleichen Ursprung haben, nämlich den abrahamitischen, jenen von Abraham. «Darauf sollte man sich besinnen», plädiert sie. Beit Ha Gefen lebt diesem Gedanken kreativ und erfolgreich nach. Die Stadt Haifa ist dadurch zu einem religiös-multikulturellen Glanzpunkt geworden und strahlt über Israel hinaus aus. Diese Institution lebt vor, dass Religionen nicht trennend sein müssen, sondern im Gegenteil verbindend. Direktor Asaf Ron sieht das so: «Wenn Muslime sogenannte ‹Ungläubige› angreifen, ist das nicht Religion, sondern Politik, die vieles kaputt macht.»

Politik beiseite lassen
Dem stimmt der christliche Priester Canon Hafem Shehadeh zu: «Wie man sich einer anderen Religion gegenüber verhält, ist in erster Linie eine Angelegenheit des Respekts. Beit Ha Gefen will möglichst viele Menschen verschiedener Religion in diese Verständigungs-Mission einbeziehen.» Für den Juden Meir Cooper bei Beit Ha Gefen ist das Gebot «Liebe deinen Nächsten» keine leere Floskel. «Muslime sind nicht unsere Feinde», sagt er überzeugt. Christen schon gar nicht. Sein Rezept: «Wir sprechen nicht über Politik, so einfach ist das.» Denn nach der Philosophie Coopers – und letztlich von Beit Ha Gefen – ist von grösster Bedeutung für ein harmonisches Zusammenleben, Politik konsequent beiseite zu schieben, Vorurteile zu überwinden «und im Dialog einzig den Menschen dahinter zu sehen und zu achten.»

Respekt bekunden
Auch der Muslim Muad Oudeh, der bei Beit Ha Gefen mitwirkt, hat seine Vorstellungen, wie Feindschaften und Gegensätze innerhalb von Religionen überwunden werden können: «Wenn man seinen Glauben ausdrücken kann, ohne den anderen zu zwingen, seinen eigenen Glauben zu ändern.» Beit Ha Gefen strebe dies bei vielen Gelegenheiten an; bei Festen, Seminaren, gemeinsamen Aktivitäten, bei Aussprachen untereinander. Muad Oudeh betont, Gegensätze und Feindschaften innerhalb von Religionen könnten überwunden werden, indem man respektvolle Gespräche führe und dabei etwas von der eigenen Religion den Partnern weitergebe. Doch gerade jetzt ist extreme Gewalt durch den Islam feststellbar, zum Beispiel durch die IS, der radikalen Gruppe Islamischer Staat. Muad Oudeh bedrückt dies. «Solche Ultras sind nicht repräsentativ für unsere Religion», sagt er. «So wenig, wie es die Charedim, die ultraorthodoxen extrem biblisch-religioesen Juden, die sich abschotten und jeden Dialog verweigern, für das Judentum sind.»

Vom Fremden zum Freund
Beit Ha Gefen lebt seinem Credo der Verständigung unter den Religionen seit 51 Jahren erfolgreich nach. «Natürlich nicht in Dimensionen, die Auseinandersetzungen, Terror, Kriege zu verhindern vermögen», wird bedauert. «Das ist Politik. Was wir praktizieren, ist Annäherung, Toleranz, Interesse, Neugierde und Freundschaft.» Das sei ein entspannender, langsam wachsender Prozess. «So erweisen sich Menschen, die man zuvor misstrauisch, gar feindselig betrachtete, unversehens als Freunde, nicht mehr Fremde. Und das zieht stets neue Kreise», erklärt Asaf Ron. Ha Gefen bringt zum Beispiel die reiche arabische Kultur in Ausstellungen unter die Leute. Auch jüdische und christliche. Zum Programm zählt ebenso das Training junger Juden und Muslime, «im Geist demokratischer Werte mit den komplexen Aspekten einer multikulturellen Gesellschaft und Koexistenz umgehen zu können», erklärt Asaf Ron. Es werden an Schulen Informationen und Diskussionen über verschiedene Religionen abgehalten. An der renommierten Leo-Baeck-Schule beispielsweise ist es Tradition, dass deren Studenten ein Jahr lang jede Woche einmal mit Menschen anderer Religion zusammentreffen. «Wir wollen eine neue, junge Generation ansprechen, die bereit ist für einen offenen Dialog», erklärt Asaf Ron.

«Das ist ein Wunder»
Durch Begegnungen können jedoch Vorurteile und Ängste gegenüber anderen Lebensweisen und Anschauungen abgebaut werden, freut er sich. Theaterauführungen, Konzerte, eine Bibliothek mit Büchern in Arabisch, Hebräisch und Englisch sollen die Annäherung ebenfalls unterstützen. Touren durch typisch arabische, jüdische und christliche Gebiete in Israel gehören ebenso zum Programm wie der Arabische-Kultur-Monat jeweils im Mai, der zehntausenden Besuchern verschiedener Religionen eine eindrückliche Begegnung mit einer ihnen meist unbekannten Welt und Mentalität eröffnet. Auch christliche, arabische und jüdische Feiertage werden gemeinsam gefeiert: Von Weihnachten der Christen über Chanukkah, das Lichterfest der Juden, bis zum Ramadan der Muslims. «Gemeinsam die verschiedenen religiösen Feste begehen, dabei aber die Eigenart jeder Religion bewahren und respektieren», nennt Asaf Ron das Ziel. Und dies fruchtet. «Die Menschen rücken zusammen, sprechen miteinander, sie erhalten Einblicke in die Rituale anderer Religionen und es entstehen neue Kontakte und Freundschaften, die in den Alltag weit über Haifa hinaus ausstrahlen», sieht Asaf Ron die grosse Verständigungsarbeit bestätigt. Der Jude Meir Cooper, ein herzlicher älterer Mann, verschweigt indessen nicht, dass dies alles «viel Energie und Einsatz erfordert». Aber es lohne sich, «weil wir von dieser grossen Aufgabe von Herzen überzeugt sind». Der christliche Priester Canon Hafem Shehadeh stimmt ihm zu: «Haifa ist wie ein Regenbogen, dessen unterschiedliche Farben nebeneinander sich ergänzen. Das ist ein Wunder.»    Werner P. Wyler

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