07.02.2019

Die Zersiedelungs-Initiative aus kirchlicher Sicht

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Am Sonntag, 10. Februar, stimmt das Schweizer Stimmvolk über die Initiative «Zersiedelung stoppen» ab.
  • Aus sozialethischer Sicht gibt die Initiative Anlass, über den eigenen Ressourcenverbrauch nachzudenken.
  • Der Verein oeku Kirche und Umwelt plädiert für ein «JA» und betont, dass mit der Initiative eine soziale Wohnbaupolitik umso dringender werde.

 

«Die zentrale Sorge der 
Zersiedelungsinitiative gilt dem Boden», hält Thomas Wallimann-Sasaki fest. Der Theologe und Sozialethiker leitet das Institut «ethik22» und analysiert die Vorlagen für Eidgenössische Abstimmungen aus dem Blickwinkel einer christlichen Sozialethik. «Was bedeutet Boden? Wohnen, Essen, aber auch Erholung sind aufs Engste mit Boden
 verbunden. Aber Boden ist nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere und
 Pflanzen die Lebensgrundlage. Dies bedeutet, dass Boden letztlich mit allem Lebendigen in Verbindung steht […]», leitet Thomas Wallimann-Sasaki seine Überlegungen ein.

Schöpfung oder einfach Ressource?

Den Kern der Diskussion um die Zersiedelung sieht er in der Grundfrage, was Boden ist. Schöpfung oder einfach Ressource? Er führt aus: «Die Initiative geht […] von einem Zersiedelungsbegriff aus, der Zersiedeln als problematisches Wachstum betrachtet – als Unordnung, die teilweise auch moralisch wertende Züge trägt. Dies hängt damit zusammen, dass dem Boden auf Grund seiner Begrenztheit und Knappheit und seiner Grundlage für alle Formen von Leben ein hoher moralischer Wert zugestanden wird.» In religiös geprägten Ethiken komme dem Boden und damit der Welt eine grosse Bedeutung zu, erklärt Thomas Wallimann-Sasaki. In den Ethiken der drei Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam ist Boden immer mehr als nur eine Ware oder eine Sache. Die Welt und damit auch der Boden ist Schöpfung.

Einfamilienhaus im Grünen

Vor diesem Hintergrund
 hinterfragt die Initiative laut Thomas Wallimann-Sasaki
 indirekt auch die von
 vielen bevorzugte und 
gewünschte Wohnform Einfamilienhaus auf dem Land – das für einen Traum von «Sein» und «Wohnen» steht, der bis heute – trotz begrenzter Flächen – in der Schweiz grosse Bedeutung hat.

Auch der Verein oeku Kirche und Umwelt hinterfragt das Ideal vom Einfamilienhaus im Grünen. Die oeku befürwortet die Initiative und erhofft sich einen nachhaltigeren und sorgfältigeren Umgang mit unserem Boden. «Der Grundgedanke der Nachhaltigkeit kommt vom Forstgesetz, das bei Rodungen die Aufforstung der gleichen Fläche an einem anderen Ort verlangt.», schreibt der Verein in seiner Stellungnahme. In seiner Argumentation geht der Leiter der oeku-Fachstelle, Kurt Zaugg-Ott, auf die Befürchtung der Gegner ein, die Initiative verteuere Bauland und Wohnungen markant. An einer solchen Entwicklung sei nicht die Zersiedelungsinitiative schuld, sondern die wirtschaftliche Dynamik und die damit steigende Kaufkraft: «Es kann ja nicht sein, dass einfach grüne Wiesen überbaut werden, damit Wohnen billiger bleibt.» Mit der Zersiedelungsinitiative werde eine aktive und soziale Wohnbaupolitik umso dringender, damit auch in Zukunft in den Zentren eine gesunde soziale Durchmischung stattfinde.

Wohnbaugenossenschaft «faires Wohnen»

Für «faires Wohnen» setzt sich die Römisch-Katholische Kirche im Aargau mit ihrer Wohnbaugenossenschaft ein. Im November 2014 ermöglichte die Synode die Gründung dieser Genossenschaft. Sie sucht die Zusammenarbeit mit interessierten Kirchgemeinden und wirbt kirchennahe natürliche und juristische Personen als Mitglieder an. Die Wohnbaugenossenschaft «faires Wohnen» übernimmt Bauland bevorzugt im Baurecht und kann selbst auch Land kaufen.
 Gemäss ihren Statuten handelt sie sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig.

«Initiative löst aktuelle Probleme nicht»

François Chapuis war bis Ende 2018 Kantonsbaumeister und Leiter Immobilien im Kanton Aargau sowie Vorstandsmitglied der Wohnbaugenossenschaft «faires Wohnen». Er erklärt, dass die Zersiedelungsinitiative die Probleme nicht löse, vor die sich die Wohnbaugenossenschaft gestellt sehe: «Die Kirche besitzt häufig Land in Zonen, die für öffentliche Bauten reserviert sind. Das schliesst reines Wohnen aus.»

Das Pilotprojekt der landeskirchlichen Wohnbaugenossenschaft soll in Zusammenarbeit mit der Kirchgemeinde Brugg in Birr-Lupfig entstehen. «Hier streben wir eine Mischnutzung an. Die Überbauung soll Gebäudeteile für die Öffentlichkeit mit genossenschaftlichen Wohnungen kombinieren». Trotz der beabsichtigten Mischnutzung stösst die Wohnbaugenossenschaft auf Hindernisse. François Chapuis betont aber: «Die Zersiedelungsinitiative beseitigt diese Hindernisse nicht. Vielmehr müssen wir über die Regeln innerhalb der bestehenden Bauzonen reden.» Auch führe die Verknappung von Bauland, wie sie die Initiative vorsehe, seiner Einschätzung nach zu höheren Landpreisen.

Kirchenpflegen mit aktiver Bodenpolitik meist überfordert

Von steigenden Landpreisen könnten die Kirchgemeinden als Landbesitzerinnen potentiell profitieren. François Chapuis gibt zu bedenken: «Um von ihren Landreserven zu profitieren, müssten die Kirchgemeinden aktive Bodenpolitik betreiben. Dafür braucht es eine Immobilienstrategie, Know-how und Boden am richtigen Ort.» Aktive Bodenpolitik betreiben nur wenige Kirchgemeinden, weil die Kirchenpflegen in der Regel damit überfordert sind. «Hier bietet die Wohnbaugenossenschaft «faires Wohnen» Hand für Lösungen. Die Schwierigkeit ist, dass die Genossenschaft aktuell zu wenig Finanzkraft aufweist und deshalb nur einzelne Projekte realisieren kann.»

Gutes Beispiel in Wettingen

Die Kirchgemeinde Wettingen zeigt, wie gelungene Bodenpolitik aussehen kann. Sie hat Land im Baurecht an die Genossenschaft «Lägern Wohnen» abgegeben. Auf dem Land der Kirchgemeinde stehen nun 27 Wohnungen, die 10 bis 20 Prozent unter dem aktuellen Miet-Marktpreis angeboten werden können. Für die nächsten 50 Jahre erhält die Kirchgemeinde Wettingen jährlich Zinsen für ihr Land. Nach Ablauf dieser Frist kann sie entweder den Vertrag verlängern oder die Wohnungen übernehmen.

Verzicht zugunsten des Gemeinwohls

Für den Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki ist die Zersiedelungsinitiative auch Anlass, über Verbrauch und Verzicht nachzudenken: «Unbestritten erscheint, dass im Sinne des Gemeinwohls und der Knappheit des Bodens eine weitsichtige Planung gefordert ist, die Grenzen setzen muss. Die Frage stellt sich, wer die Lasten dieser Planung und des Verzichts trägt und wer davon profitiert. Je weiter das Gemeinwohl gefasst wird, desto schneller zeigt sich, dass die Land- und Wohnraumbesitzenden angesichts ihrer Privilegien einen Verzicht leisten müssen, damit das Wohl aller im Blick behalten wird.»

Die Präsidentin des Vereins oeku Kirche und Umwelt, Vroni Peterhans, ist Katechetin und Bäuerin. Auch sie plädiert für mehr Bescheidenheit: «Vielleicht erreicht diese Initiative , dass wir alle unseren Anspruch auf die Grösse unserer Wohnflächen etwas reduzieren und somit weniger gebaut werden muss. Manchmal müssen individuelle Bedürfnisse zugunsten des Gemeinwohles zurück gestellt werden. Diese ‚Suffizienz’ würde uns Christen zugunsten der Schöpfung gut anstehen, und sie macht erst noch glücklicher.»

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