09.02.2017

Angst, den gesellschaftlichen Regeln nicht gewachsen zu sein

Von Anne Burgmer

Es war der vielleicht grösste Anlass, an dem Flüchtlinge direkt und in ihrer je eigenen Sprache zu ihren Integrationserfahrungen im Aargau befragt wurden und sich äussern konnten. Die Ergebnisse der Einzelfragebögen und die Auswertungen der Gruppengespräche offenbaren nun, wo Handlungsbedarf besteht: Beim Kontakt zur einheimischen Bevölkerung und der Beteiligung von Flüchtlingen an Projekten.

Als es Anfang Oktober 2016 von Seiten Caritas Aargau hiess, «eine von uns beauftragte Projektgruppe mit Flüchtlingen aus Syrien und Eritrea, Afghanistan und Tibet hat in den letzten Wochen mehrmals die Köpfe zusammengesteckt, und entstanden ist nun ein Flüchtlingsevent mit dem Namen «exex – exchange experience» («exex»)», lagen 50 Anmeldungen für den Event vor. Schlussendlich kamen aus allen Regionen des Aargau insgesamt 250 Flüchtlinge mit B- und F-Bewilligung am 5. November 2016 zu dem Workshop in der Schachenhalle in Aarau (Horizonte berichtete).

Dort konnten die Flüchtlinge in verschiedenen Sprachgruppen darlegen, welche Erfahrungen sie im Zusammenhang mit Integration bei uns gemacht haben. Sie konnten zudem erzählen, was sie sich in Bezug auf Integration und Partizipation wünschen. Gleichzeitig bestand die Möglichkeit, Fragebögen zu verschiedenen Aspekten des Themas auszufüllen.

Fragebögen und Gruppengespräche ausgewertet

Nach rund drei Monaten liegen Horizonte als erstem Medium nun die Ergebnisse aus 21 geleiteten und themenzentrierten Gruppengesprächen sowie die Auswertung von 220 ausgefüllten Fragebögen vor. Die Fragebögen, so heisst es in der Medienmitteilung der Caritas Aargau, «dienten [als quantitatives Forschungsinstrument] einerseits der Beschreibung der Stichprobe (wer sind die Befragten; siehe ganz unten) und andererseits der Erhebung der Grundvoraussetzungen der Partizipation (was wird benötigt, damit Partizipation möglich ist)». Durchgeführt wurden die Befragungen und Auswertungen durch Olivia Conrad und Joëlle Senn, Studentinnen der Fachhochschule Nordwestschweiz, im Rahmen einer Projektarbeit.

Viele fühlen sich nicht gleichberechtigt

Die Befragungen ergaben, dass die Migrantinnen und Migranten grundsätzlich sehr motiviert sind. Den Spitzenplatz nimmt die Motivation ein, Deutsch zu erlernen (etwas über 94 Prozent). Die Ergebnisse im Bereich «Anerkennung» sind unterschiedlich. Zwar fühlt sich mit knapp 75 Prozent der grosse Teil der Flüchtlinge hier respektiert, doch bei der Frage nach der fairen Behandlung sinkt die Zustimmung auf etwas über 68 Prozent und lediglich etwas über 50 Prozent der Befragten fühlen sich in der Schweiz gleichberechtigt. Auch bei den «materiellen und sozialen Rahmenbedingungen» fühlen sich die Flüchtlinge zurückgestellt.

Im Bereich «Gleichheit und Differenz» sticht die 97 prozentige Zustimmung zur Aussage, dass der Kontakt mit Schweizern wichtig sei, heraus. «Uns hat überrascht, dass der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung so stark gewichtet und betont wurde. Somit ist dies nicht nur aus unserer Sicht wichtig, sondern eben auch aus der Sicht der Flüchtlinge», erklärt Beat John von Caritas Aargau und Projektleiter von «exex».

Anlass war Flüchtlingen sehr wichtig

Ebenfalls unerwartet war, so Beat John, «wie wichtig der Anlass den Flüchtlingen war. Das haben wir nicht erwartet». Beat John erzählt, wie engagiert das Projektteam, bestehend aus Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea, Afghanistan und Tibet sich für den Anlass eingesetzte hat. «Die Flüchtlinge im Projektteam haben von uns nach dem Abschluss eine Bestätigung über ihr Engagement erhalten. Wie ein kleines Zeugnis. Und es war eindrücklich, zu erleben, wie wichtig ihnen diese Schweizer Bestätigung ist. Sie wollen Anerkennung und dafür wollen sie sich einbringen in die Gesellschaft.»

Kontakt zu Schweizern und Arbeit dringend erwünscht

Der Kontakt der Flüchtlinge untereinander ist gut, wie die Befragung ergab. Allerdings wünschen sich die meisten besseren und mehr Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Die Mehrheit der Flüchtlinge hat in der Schweiz endlich keine Angst mehr um Leib und Leben, lernt dafür allerdings die Angst kennen, den gesellschaftlichen Regeln nicht gewachsen zu sein. Das Erlernen der Sprache wird als zwingend notwendig verstanden, doch das Angebot an Kursen wird dem nicht gerecht. Im Bereich Arbeit werden der Wunsch zu arbeiten und die Wichtigkeit von Arbeit klar benannt, gleichzeitig von unüberwindbaren Hürden auf dem Weg zu einer Arbeitsstelle gesprochen. Das Thema Wohnen und Mobilität balanciert zwischen dem Wunsch nach eigenem Wohnraum und der Sorge, undankbar zu erscheinen, wenn man nicht das erste Angebot annehme.

Flüchtlinge wollen wissen, was man von ihnen erwartet

Eine Befragung der Flüchtlinge in der Grössenordnung, wie Caritas Aargau sie durchführte, und die themenzentrierten Gespräche in Sprachgruppen sind insofern hilfreich, als dass bestimmte Themen neu ins Bewusstsein geraten. Ob etwas hilfreich ist oder nicht, kann letztlich nur derjenige sagen, der die Hilfe benötigt. Da treffen sich Einheimische und Zuwanderer – denn wer hat nicht schon einmal angesichts von Bürokratie und amtlichen Broschüren den Kopf geschüttelt und bei sich gedacht: Das ist zwar gut gemeint, doch nicht gut gemacht.

Ähnlich ist es mit der Überlegung, ob ein Angebot wirklich niederschwellig ist oder nicht. «Ein Anliegen der Flüchtlinge ist zum Beispiel eine bessere Information über die verschiedenen Anforderungen an Flüchtlinge im Aargau», erklärt Beat John. Es zeigte sich, so Beat John, dass bestimmte Informationsangebote, die aus der Sicht der Hilfswerke, Vereine oder des Kantons gut und niederschwellig sind, aus Sicht der Flüchtlinge schon eine Überforderung darstellten.

Dankbarkeit beeinflusste möglicherweise die Resultate

Eng verbunden mit dem Thema Integration ist das Thema der Partizipation – also die Teilhabe an der Gesellschaft, in der man lebt. «Gesellschaftliche Partizipation setzt aber auch Motivation, materielle und soziale Rahmenbedingungen, Anerkennung, Gleichheit und Differenz sowie Konfliktfähigkeit voraus. Diese Aspekte wurden im quantitativen Fragebogen erfasst», heisst es in der Auswertung.

Zu bedenken sei allerdings, dass die Befragung aus zwei Gründen nur beschränkten Aussagewert hätte, wie die Verantwortlichen von Caritas Aargau erklären. Einerseits sei der Fragebogen trotz Übersetzung anspruchsvoll gewesen. Andererseits müsse man «von einem positiven Framing ausgehen». Das heisst, dass die Flüchtlinge aus Dankbarkeit gegenüber den Organisatoren, gegenüber dem Kanton und der Schweiz, die Fragen möglicherweise positiver beantwortet hätten, um nicht undankbar zu erscheinen.

Beat John bestätigt: «Ich war tief berührt von der Dankbarkeit der Flüchtlinge. Es war für sie etwas ganz Spezielles, dass Caritas für sie so einen Event mit Fest organisiert hat. Und diese Dankbarkeit schlägt sich auch in den Antworten nieder. Diesen Aspekt darf man nicht ausser Acht lassen.»

Fazit: Flüchtlinge sollen sich auch gegenseitig unterstützen

«Die Resultate», so Beat John, «sind der Input für unsere Weiterarbeit. Einerseits geht es da um Projekte, die wir anpacken wollen. Andererseits geht es aber auch um die Haltungen für bestehende Projekte und Engagements. Wir haben gespürt, wie gerne Flüchtlinge mitmachen möchten. Dies müssen wir vermehrt in unserer Arbeit berücksichtigen und ermöglichen».

Empowerment heisst das Stichwort – Ermächtigung. Das heisst, dass die Fähigkeiten der Flüchtlinge, sich gegenseitig zu unterstützen, um ein selbstbestimmteres Leben zu führen, bestärkt werden. Man sei noch in der Phase der Konzeptionierung, so Beat John, doch im Bereich Begleitung und Austausch von Flüchtlingen durch Flüchtlinge, die schon länger hier lebten und ihr Wissen weitervermitteln könnten, wolle man verstärkt tätig werden.

Neben der konkreten Arbeit an Projekten, wolle man die Form von Austausch, die «exex» darstellt, unbedingt weiterführen: «Ich darf ein Weiterentwicklungskonzept dazu schreiben. Diese Plattform des Austausches hat Energie und Kraft und die Bereitschaft der Flüchtlinge ist gross, mitzumachen und teilzunehmen», erklärt Beat John.

 

Hintergrundinformation – Wer wurde befragt?

Gut zwei Drittel der Befragten aus insgesamt elf Nationen leben seit drei Jahren oder länger in der Schweiz. 60 Prozent der Befragten haben den Aufenthaltsstatus B, 25 Prozent den Status F. Es füllten beinahe gleichviel Frauen wie Männer den Fragebogen aus. Auch wenn alle Alterskategorien anwesend waren, waren im Verhältnis vor allem 20 bis 40-jährige Frauen und Männer anwesend.  Über 60 Prozent der Befragten haben Kinder (die 150 anwesenden Kinder wären die stärkste Altersgruppe gewesen; die Kinder wurden allerdings nicht über Fragebogen erfasst).

Von 189 Befragten, die die Frage beantwortet haben, haben 134 im Heimatland einen Abschluss (Schulabschluss: 58, Berufsabschluss: 22, Hochschulabschluss/Studium: 42, andere: 12). Nur 55 dieser 189 haben keinen Abschluss. Das sind knapp 30 Prozent. Demgegenüber haben von 174 Befragten, die die Frage beantwortet haben, nur 67 Personen einen Abschluss in der Schweiz (Schulabschluss: 23, Berufsabschluss: 20, Hochschulabschluss/Studium: 3, andere: 21). 117 haben keinen Bildungsabschluss in der Schweiz. Das sind über 67 Prozent. Nur 7.8 Prozent der Befragten (15 von 193 Befragten, die die Frage beantwortet haben) sind im Kanton Aargau erwerbstätig.

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