24.08.2017

Flüchtlinge: Arbeitsintegration hapert

Von Andreas C. Müller

1 500 Franken im Monat? 40 000 oder 80 000 Franken jährlich? Auch wenn die Meinungen über die genauen Beträge auseinander gehen: Flüchtlinge, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können, kosten die Allgemeinheit eine Stange Geld. Am 7. September diskutieren  Regierungsrat Urs Hofmann, der reformierte Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg und Patrizia Bertschi vom Verein «Netzwerk Asyl Aargau» in Aarau darüber, wie Flüchtlinge besser in den Schweizer Arbeitsmarkt integriert werden können.

Teklemichael Nrayo manövriert geschickt den Stapler in der grossen Warenhalle. Der 28-jährige Eritreer arbeitet bei «Lagerhäuser Aarau» in der Kommissionierung als Festangestellter – nach erfolgreichem Abschluss einer Attestlehre. Vor fünfeinhalb Jahren sei er in die Schweiz gekommen, erklärt Teklemichael Nrayo in ganz passablem Deutsch. Anderthalb Jahre habe das Asylverfahren gedauert, erinnert er sich: «Viel warten, ein Drei-Monate-Deutschkurs, sonst nichts.»

Mit Privatunterricht im Betrieb erfolgreich

2014 kam der junge Mann zu seinem aktuellen Arbeitgeber. Nach einem Schnuppereinsatz in der Verpackungsabteilung nahm ihn Roland Höchle, Leiter Co-Packing und Unterhalt, unter seine Fittiche, ermöglichte dem jungen Mann in Zusammenarbeit mit der Kantonalen Schule für Berufsbildung (KSB) erst ein zweijähriges Logistik-Praktikum, dann die Attestlehre.

Teklemichael Nrayo ist nicht der einzige Flüchtling im Betrieb, aber der derzeit erfolgreichste. Roland Höchle ist stolz auf diesen Integrationserfolg, für den er sich massgeblich engagiert hat. «Mit einem obligatorischen, dreimonatigen Kurs im Asylverfahren sowie gegebenenfalls einem Anschlusskurs gebe der Kanton den Leuten zu wenig Rüstzeug, um in der Arbeitswelt und der Ausbildung bestehen zu können», erklärt der Logistiker. Mit Unterstützung von Geschäftsführer Beat Bolzhauser organisierte Roland Höchle darum für mehrere Flüchtlinge im Betrieb hauseigenen Deutschunterricht.

«Wenn jemand die Sprache nicht kann, kannst du ihn auch nicht über die Arbeit integrieren», weiss Beat Bolzhauser. Sein Betrieb mit drei Standorten im Aargau hat sich beim Thema Integration durch Arbeit bereits einen Namen gemacht. Schon seit Jahren vermitteln die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren sowie verschiedene Sozialinstitutionen dem Unternehmen Lehrabbrecher, Sozialfälle und seit einiger Zeit auch Flüchtlinge.

«Überlebenstraining» in der Verpackungsabteilung

«In unserer Verpackungsabteilung können wir den Leuten einen niederschwelligen Einstieg mit einfachsten Arbeiten ermöglichen, erklärt Roland Höchle und zeigt die Anlage, wo Gestelle mit Aktionsangeboten für die Präsentation in den Geschäften diverser Grossverteiler zusammengestellt werden. Emsig setzen Frauen gerade Spaghettischachteln zu Aktionspacks mit entsprechender Etikette zusammen. «Wer hier zwei bis drei Wochen überlebt, schafft es auch anderswo, wenn er will», meint Roland Höchle.

Zu 90 Prozent befänden sich ausländische Frauen unter den Angestellten der Verpackungsabteilung. Alle arbeiten teilzeit. Den Frauen gehe es vor allem darum, nebst der Kinderbetreuung etwas für den Unterhalt verdienen zu können, erklärt Roland Höchle Die jungen Männer aus Eritrea, darunter Teklemichael Nrayo und Getachew Temane, habe er in die Kommissionierung heruntergenommen, so Roland Höchle weiter. «Sie fehlen nie, sind immer zuverlässig, haben Freude an der Arbeit.» Getachew Temane hat diesen Sommer ebenfalls die Lehrabschlussprüfungen absolviert, aber den theoretischen Teil nicht bestanden. «Die Sprache», erklärt Roland Höchle. «Er darf es nochmals versuchen. Wir unterstützen ihn.»

Was kostet ein Flüchtling die Allgemeinheit?

Per Ende Juli diesen Jahres listet der Kanton Aargau 2 331 anerkannte Flüchtlinge mit Ausweis B. Davon, so die Statistik, sind lediglich 378 erwerbstätig (als erwerbsfähig gelten 1 526). 2 308 besitzen als sogenannt vorläufig Aufgenommene einen Ausweis F. Von diesen sind laut Statistik 479 erwerbstätig (als arbeitsfähig gelten 1 531). Das sind gesamthaft 4 639 Personen, von denen laut Statistik nur 857 erwerbstätig sind. Hinzu kommen noch 2 256 Flüchtlinge, die noch auf einen Asylentscheid warten. Von diesen arbeiten lediglich 27 (als erwerbsfähig weist die Statistik 1 749 aus). Laut Sandra Stamm, Leiterin Sektion Öffentliche Sozialhilfe des Departements Gesundheit und Soziales DGS, lebten gemäss Sozialhilfestatistik für Flüchtlinge im Jahr 2015 im Kanton Aargau 1 191 Flüchtlinge von der Sozialhilfe – neuere Zahlen waren vom Kanton auf Anfrage nicht zu haben. Gemäss einem Artikel im Tagesanzeiger vom 18. Juni 2017 hätten sich die Sozialhilfe-Ausgaben für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene gesamtschweizerisch in den vergangenen Jahren jedoch mehr als verdoppelt.

Bei den Kosten gehen die Meinungen auseinander. Für die vorläufig aufgenommenen Ausländer und Asylsuchende im laufenden Verfahren (Status N) reiche die Globalpauschale des Bundes aus, um die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu decken, erklärt Sandra Stamm. «Die monatliche Globalpauschale von rund 1 500 Franken pro Flüchtling und Monat deckt die Sozialhilfekosten inklusive Infrastruktur des Kantons.» Im Bereich der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden seien die Kosten je nach Unterbringungsart jedoch deutlich höher.

«40 000 Franken bei Vollkostenrechnung»

Martina Bircher, SVP-Grossrätin und Gemeinderätin von Aarburg, die in den Medien immer wieder vor ausufernden Sozialkosten für Gemeinden warnt, schätzt die Kosten höher. «Ein erwachsener Flüchtling, der nicht arbeitet, kostet die Allgemeinheit etwa 40 000 Franken jährlich», sagt sie. Im Einzelfall – bei einer besonderen Situation oder einer Suchterkrankung – könnten es sogar 60 000 bis 80 000 Franken sein. «Dies bei Vollkostenrechnung inklusive Sozialhilfe, Krankenkasse und Betreuung.»

Das Problem ist bekannt, seine Lösung gestaltet sich indessen anspruchsvoll. Und Hilfsorganisation wie der Verein «Netzwerk Asyl Aargau» sparen nicht an Kritik an der gängigen Asylpraxis. Das grösste Problem sei, dass Asylsuchende nicht frühzeitig zu Integrationsmassnahmen und Arbeit zugelassen würden, erklärt Patrizia Bertschi, Präsidentin von «Netzwerk Asyl Aargau».

«Asylsuchende warten bis zwei Jahre, ohne dass sie arbeiten»

Von Gesetzes wegen unterstehen Asylsuchende während der ersten drei Monate einem gesetzlichen Arbeitsverbot. Faktisch sei es aber so, dass sich für Flüchtlinge erst etwas bewege, wenn sie ihren Asylentscheid haben. «Und das kann ein, ja sogar bis zu zwei Jahre dauern», weiss Patrizia Bertschi aus Erfahrung. «Während dieser Zeit warten die Menschen, haben kaum Deutschkurse oder Beschäftigungsprogramme. Nur ganz selten bieten sich Möglichkeiten für Praktika», erklärt die Präsidentin von «Netzwerk Asyl Aargau», denn diese würden nur von Freiwilligen vermittelt. «Und dann – wenn sie einen positiven Entscheid haben, sollen sie sich rasch integrieren und arbeiten. Aber wie soll dass funktionieren, wenn man die Menschen in der Zeit davor nicht ausreichend vorbereitet hat?», fragt sich Patrizia Bertschi.

Dass Flüchtlinge, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden können, die Allgemeinheit teuer zu stehen kommen, hat man auch beim Kanton Aargau erkannt. Mit dem Case Management Integration des Kantons arbeite man gezielt auf die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommen hin, erklärt Doris Richner. Die Flüchtlinge durchlaufen ein internes Arbeitstraining mit Blick auf einen externen Einsatz im ersten Arbeitsmarkt. Dies soll die Türen öffnen für ein Praktikum, später dann für eine Lehrstelle oder eine feste Anstellung.

«Nur für einfache Arbeiten gefragt»

In der 2016 lancierten Integrationspartnerschaft zwischen dem Kanton Aargau und angeschlossenen Branchenverbänden wurden verschiedene Massnahmen vereinbart, um die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt zu fördern und zu verbessern. Mit im Boot sind auch die Aargauer Industrie- und Handelskammer (AIHK) und der Aargauer Gewerbeverband (AGV). Was die Maßnahmen genau bringen, werde sich ab 2017 abzeichnen, erklärt Doris Richner.

«Wo Mangel an Arbeitskräften besteht, sind Arbeitgeber gerne bereit, Hand für eine Beschäftigung zu bieten», weiss Ruth Anner, ehemalige Berufsberaterin aus Wettingen. Das gelte jedoch vor allem für einfache Arbeiten, an denen es in der Schweiz mehr und mehr mangle. Für viele, gerade technische Berufe brauche es hingegen gute schweizerische Schulbildung. «Da haben die Flüchtlinge keine Chance.»

Das Problem kennt man auch beim Kanton. «Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene bringen keine Erfahrung vom Arbeitsmarkt der Schweiz oder einem anderen westlichen Industriestaat mit. Oftmals existiert ihr Beruf in unserer Berufswelt nicht mehr oder nur in stark abgewandelter Form», erklärt Doris Richner. «Im laufenden Jahr investiert darum der Kanton Aargau drei Millionen Franken aus Bundesmitteln zur Finanzierung von Massnahmen, die Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene bei der Integration in den Schweizer Arbeitsmarkt unterstützen.»

«Keine Chancengleichheit wegen Wildwuchs von Angeboten»

«Zu wenig», klagen soziale Institutionen. Und ein Blick in die Finanzierungsbücher verschiedener Projekte zeigt: Ohne zivilgesellschaftliches Engagement von Freiwilligen sowie Finanzierung von Dritten käme manches Projekt nicht zustande. Patrizia Bertschi vom Verein «Netzwerk Asyl Aargau» bereitet in diesem Zusammenhang noch ein weiterer Aspekt Sorgen: «Immer mehr Freiwillige übernehmen gratis die Arbeit der öffentlichen Hand – weil der Staat seine Verantwortung nicht wahrnimmt und kein Geld ausgeben will.» Das wiederum habe zur Folge, dass Wildwuchs entstehe und nicht alle die gleichen Chancen und Möglichkeiten hätten.

Auch die Aargauer Landeskirchen stellen Mittel für die Integration von Flüchtlingen zur Verfügung. Dieses Engagement schätzt man auch beim Kanton. «Viele Kirchgemeinden, aber auch Hilfswerke wie das HEKS und Caritas leisten vor Ort mit ihrem diakonischen Angebot und den vielen Freiwilligen einen wertvollen Beitrag», lobt Doris Richner.

«Deutsch lernen und weiterbilden»

Laut Frank Worbs, Leiter Kommunikation bei der Reformierten Landeskirche Aargau, «beteiligen sich die Aargauer Landeskirchen in der Regel mit aufeinander abgestimmten Beiträgen gemeinsam an Integrationsprojekten». Dazu gehören unter anderem Projekte der «Anlaufstelle Integration Aargau» und das Projekt «UMA – Leben und Lernen» von «Netzwerk Asyl Aargau», das Jugendliche nach der obligatorischen Schulzeit auf eine Berufslehre oder eine Arbeitsstelle vorbereitet. Im Rahmen ihres Legislaturschwerpunkts «Fremd-Sein» leiste die Römisch-Katholische Landeskirche zudem mit einer Vielzahl von Aktionen Sensibilisierungsarbeit, ergänzt Marcel Notter, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau.

Auch der Anlass am 7. September 2017 «soll ein Anstoss sein», erklärt Frank Worbs. Zum Thema Integration durch Arbeit lädt die Ökumenische Kommission Kirche und Wirtschaft der Aargauer Landeskirchen zu einem Diskussionsabend. Mit von der Partie sind nicht nur der Aargauer Volkswirtschaftsdirektor Urs Hofmann, Christoph Weber-Berg, Kirchenratspräsident der Reformierten Landeskirche Aargau und Patrizia Bertschi als Präsidentin des Vereins «Netzwerk Asyl Aargau», sondern auch Teklemichael Nrayo, der nach dem erfolgreichem Abschluss seiner Attestlehre bei «Lagerhäuser Aarau» eine Festanstellung erhalten hat. Wie man die Arbeitsintegration von Flüchtlingen verbessern kann, vermag der 28-Jährige auch nicht zu sagen, doch für den jungen Mann steht fest, dass er noch weiter an seinem Deutsch arbeiten will, um sich stetig weiterbilden zu können. Dann schwingt er sich wieder auf den Stapler und saust davon, entschwindet zwischen den hohen Palettenhügeln in Schafisheim.

 

Integration durch Arbeit
Chancen und Herausforderungen der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt

Referat von Regierungsrat Urs Hofmann mit Diskussionspodium. Teilnehmende: Dr. Christoph Weber-Berg, Kirchenratspräsident Reformierte Kirche Aargau; Dr. Urs Hofmann, Regierungsrat; Nico Parazetti, Leiter Transport Lagerhäuser Aarau; Patrizia Bertschi, Präsidentin Netzwerk Asyl; Jathurshan Premachandran und Teklemichael Nrayo.

Donnerstag, 7. September 2017, 17.15 bis 19.15 Uhr AGV-AG, Bleichemattstasse 12 / 14, Aarau Eintritt frei
Eine Veranstaltung der Ökumenischen Kommission Kirche und Wirtschaft der Aargauer Landeskirchen

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.