14.09.2015

An Hubertus scheiden sich die Geister

Von Andreas C. Müller

Über die Tradition sind Jagd und Kirche seit Jahrhunderten miteinander verflochten. Gefeiert wird das Waidwerk noch heute in Hubertusmessen als Dienst an der Schöpfung. Ein Affront, wie manche finden.

Mitte September wird die Jagd eröffnet. Restaurants locken mit herbstlichen Kreationen, die Detailhändler füllen ihre Regale und Theken mit Wildprodukten. Mit meinen beiden Töchtern begleite ich Marcel Notter, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Landeskirche und passionierter Jäger, zum «Ansitzen». Flinte und Büchse lässt Marcel Notter diesmal aus Rücksicht auf die beiden Mädchen daheim.

Mehr als nur das Erlegen von Wildtieren
«Jägerinnen und Jäger sind Menschen von eigenem Schlag und stammen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten», erklärt Marcel Notter unterwegs. «Allesamt sehr zuverlässige und naturliebende Leute mit dem Herzen am rechten Fleck, auf die du dich voll und ganz verlassen kannst.» Auf eine Gesamtbevölkerung von gut 600 000 Einwohnern kommen im Aargau gegen 2000 Jägerinnen, Jäger und Jagdgäste in 210 bejagbaren Revieren. Deren Aufgaben bestehen darin, Artenvielfalt und Lebensräume zu erhalten, die von Wildtieren verursachten Schäden zu begrenzen und eine nachhaltige Jagd zu gewährleistenden. Auf dem Weg zum Hochsitz unweit der Beguttenalp oberhalb von Erlinsbach zeigt sich, dass Jagd mehr beinhaltet als das Erlegen von Wildtieren. Marcel Notter besitzt fundierte Kenntnisse über Flora und Fauna in Waldgebieten und kennt sich mit Krankheiten von Wildtieren aus. Gebannt und in freudiger Erwartung lauscht meine ältere Tochter den Erzählungen des Jägers, hofft, dass sie, wie dieser selbst, auch eine Rehmutter mit Kitzen zu Gesicht bekommt. Und natürlich atmet sie erleichtert auf, als Marcel Notter meint, auf die würde er auch, wenn er das Gewehr dabei hätte, nicht schiessen. Die Erwartungen erfüllen sich an diesem Abend nicht. Reh, Dachs, Fuchs und andere Waldbewohner wollen sich an jenem Abend nicht zeigen. Wir müssen uns mit dem Anblick zweier Siebenschläfer und spannenden Geschichten begnügen.

Konflikt des Gewissens
Die Jagd ist so alt wie die Menschheit selbst. Zu frühester Zeit gab es kein Überleben ohne Jagderfolg. Daher auch die These von der Natur des Menschen als «Jäger», mit der die Leidenschaft für Jagd und Fleischkonsum erklärt wird. Mit dem gleichen Argument könne man allerdings auch Sklaverei und Kannibalismus begründen, warnt der Kapuziner Anton Rotzetter, seines Zeichens Präsident der Aktion Kirche und Tiere akut, die sich vehement gegen Jagd und deren Würdigung im kirchlichen Rahmen bei sogenannten Hubertusmessen stark macht. «Gewiss waren wir einst auf die Jagd angewiesen, doch Felsenzeichen aus der Frühzeit der menschlichen Geschichte belegen, dass der Mensch schon damals in einem ständigen Gewissenkonflikt gestanden hat», führt Anton Rotzetter weiter aus. «Auch ein Tier ist ein Subjekt. Es braucht dahingehend starke Gründe, welche die Jagd, beziehungsweise das Töten von Tieren rechtfertigt.»

Aufstieg zum Kunsthandwerk
Die von Anton Rotzetter erwähnten Felsenzeichnungen lassen sich unterschiedlich interpretieren, belegen allerdings, dass die Jagd schon von frühester Zeit an eng mit bestimmten Ritualen verknüpft war. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Jagd kultiviert. Es gelang ihr im Mittelalter der Aufstieg zum Kunsthandwerk. So beschreibt im 14. Jahrhundert Gottfried von Strassburg in seinem Tristan-Roman ausführlich und mit besonderer Liebe fürs Detail nicht nur die Jagd, sondern auch die Entbästung eines Hirschs. Jeder Handgriff folgt ritualisiert klaren Regeln. Bis in die Barockzeit entwickelte sich zur Jagd auch eine spezielle Musik mit eigens geeigneten Instrumenten. Diese, noch heute überaus beliebte Komponente, wurde insbesondere unter Ludwig XIV. in Frankreich besonders gefördert und fand Eingang in kirchliche Anlässe.

Tradition der Hubertusmessen
Dass die Jagd einst nicht nur existenzsichernd, sondern auch mit grossen Gefahren verbunden war, erklärt, weshalb Jäger vor ihrem Ausritt ihre Götter und Schutzheiligen um Unterstützung und Segen baten. Seit dem Mittelalter pflegten zudem auch höhere Geistliche das Waidwerk, welches wie Landwirtschaft und anderes Tagwerk im Laufe des Kirchenjahres in speziellen Gottesdiensten verdankt und gesegnet wurde. Unter den für die Jagd angerufenen Heiligen sticht besonders Hubertus hervor, dessen Patrozinium im Rahmen von sogenannten Hubertusmessen um den 3. November noch immer gefeiert wird – auch im Aargau. Hubertusmessen sind seit Mitte des 13. Jahrhunderts bezeugt. Der Legende nach – so zeigt es auch die Etikette des Jägermeister-Kräuterlikörs – wurde der spätere Bischof von Lüttich Hubertus durch einen kreuztragenden Hirsch bekehrt, als er an einem Sonntag als Pfalzgraf die Jagd dem Kirchgang vorzog.

Abgekupferte Legende
Ab dem 13. Jahrhundert diente Hubertus als Patron der Jäger und Beschützer vor Tollwut. Im Glauben, dass Hubertus gegen diese Krankheit Schutz biete, liessen sich viele Gläubige mit einem «Hubertusschlüssel» behandeln oder «einschneiden». Ersteres bezeichnet einen geweihten Eisenstab, mit welchen eine zugefügte Bisswunde ausgebrannt wurde. Beim «Einschneiden» wurde dem Hilfesuchenden ein kleiner Stirnschnitt verpasst und dort ein Faden aus der Stola des Heiligen Hubertus eingesetzt. Da längst nicht jedes bissige Tier tollwütig war und selbst bei Bissen von an Tollwut erkrankten Tieren nicht zwingend die Gefahr einer Ansteckung gegeben ist, setzte es in den Augen der damaligen Zeitgenossen so manches «Hubertuswunder». Anton Rotzetter verweist in diesem Zusammenhang allerdings darauf, dass die Hubertuslegende bewusst konstruiert wurde, um die Jagd zu rechtfertigen. Pate gestanden hatte Eustachius, der, an einem Karfreitag jagend, von einem kreuztragenden Hirsch die Stimme Jesu hörte: «Warum verfolgst du mich?» Und Eustachius legte die Waffe nieder und gab das Weidhandwerk für immer auf. Demzufolge richtet sich die Hubertus-Legende im Grunde gegen die Jagd, ist Anton Rotzetter überzeugt.

Überhöhung der Jagd
Heutzutage stehen Hubertusmessen immer wieder in der Kritik. Bei solchen Messen zieht häufig ein Jagdbläsercorps zusammen mit Zelebrant und Ministranz ein. Die mitgestaltenden Jäger bringen zudem Gegenstände ihrer gewohnten Umwelt ins Gotteshaus, um für sie zu danken und Gottes Segen zu erbitten. Teils nehmen auch Falkner und Hundeführer teil. Auch wenn Waffen und erlegtes Wild kaum noch Bestandteil solcher Hubertusfeiern sind, machen kirchlich engagierte Tierschützer, Vegetarier und Veganer Front gegen «diese Form der kirchlichen Überhöhung der Jagd», wie es Anton Rotzetter nennt.

Den Schöpfer im Geschöpf ehren
«Das Erlegen von Wildtieren, Beute und Trophäen bilden Teil des Jagens. Jagd bedeutet aber weit mehr», erklärt Andreas Baumann mit Verweis auf den Jagdkodex und das Leitbild Jagd Schweiz. Dort steht: «Jagd umfasst zahlreiche handwerkliche, gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Tätigkeiten. Dazu gehören die Überwachung von Wildtieren und ihrer Gesundheit ebenso wie die Erhaltung und Pflege der Lebensräume sowie die Abklärung wildbiologischer Fragen.» Andreas Baumann selbst ist nicht nur Jäger, sondern auch Obmann eines 14-köpfigen Jagdhornbläser-Ensembles. Mit diesem spielt der Andreas Baumann auch immer wieder an Hubertusmessen auf. Für Hornbläser und Jäger ist klar: Jagd hat sich an ethischen Prinzipien zu orientieren, an die schon im 19. Jahrhundert der deutsche Jagd-Schriftsteller Oskar von Riesenthal in seinem Gedicht Weidmannsheil appellierte. «Das ist des Jägers Ehrenschild, dass er beschützt und hegt sein Wild, weidmännisch jagt wie sich’s gehört, den Schöpfer im Geschöpfe ehrt.» Modern übersetzt heisst das im Schweizer Jagdleitbild und im Jägerkodex: «Moderne Jagd ist Hegejagd, das heisst eine massvolle, den Populationen und Gegebenheiten angepasste Nutzung und Pflege. Jagd bedeutet daher oft auch Verzicht auf Abschüsse.» Oder: «Ich spreche vor dem Schuss ein Tier genau an und schiesse nur, wenn ich überzeugt bin, dass das Wild erlegt werden darf und ich einen weidgerechten Schuss antragen kann.» Wildbret sei zudem eine gesunde Alternative zum industriell erzeugten Nahrungsmittel. Dem stimmt auch der Vegetarier Anton Rotzetter zu – insbesondere in Anbetracht der zunehmenden Wild-Zuchtproduktion. Man dürfe aber nicht ein Übel mit einem anderen schönreden, so der Präsident der Aktion Kirche und Tiere akut. Die für die Jagd vorgebrachten forstwirtschaftlichen und wildbiologischen Argumente erscheinen ihm darum fragwürdig. «Studien aus Frankreich und Zürich haben gezeigt, dass Eingriffe durch Jäger nicht den gewünschten Effekt bringen.» Eher das Gegenteil sei der Fall.

Gesellschaftlich breit akzeptiert
Möglicherweise haben Treibjagden, bei denen früher manchmal einzelne Mitglieder stark unter Alkoholeinfluss standen, die Jagd in Verruf gebracht und eine breitere Öffentlichkeit sensibilisiert. Eine Schande seien zudem auch Jäger, die kaum je eine ernsthafte Auseinandersetzung mit jagdethischen Fragen in Erwägung gezogen haben, meint Marcel Notter. Doch schwarze Schafe gebe es leider überall. Von dieser Erkenntnis hat sich wohl auch das Aargauer Stimmvolk leiten lassen, als es 2005 und 2011 einem Verbot der Treibjagd eine wuchtige Absage erteilte. Die Jagd geniesst somit auch heute noch grossen Rückhalt. Das zeigen die alljährlichen Hubertusmessen von Arni bis Zofingen und von Bad Zurzach bis Muri. Und der Selbstversuch mit den Töchtern hat gezeigt: Jäger sind keine tiermordenden Schlächter, sondern umgängliche Menschen mit Herz.

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