20.08.2014

Armut kann jeden treffen

Von Horizonte Aargau

Lydia Weiss-Schmid leitet den Kirchlichen Regionalen Sozialdienst Aargau-West in Oftringen in Zusammenarbeit mit Caritas Aargau. An einem Vortragsabend der ökumenischen Erwachsenenbildung Zofingen spricht sie zum Thema «Armut in unserer Region – gibt’s das überhaupt?»

Lydia Weiss, Sie sprechen an einem Vortragsabend der ökumenischen Erwachsenenbildung Zofingen über Armut in unserer Region. Seit wann befassen Sie sich mit dem Thema?
Lydia Weiss: Schon während meiner Ausbildung zur Sozialarbeiterin war Armut ein Thema. Seit April 2012 leite ich den Kirchlichen Regionalen Sozialdienst Aargau-West in Oftringen in Zusammenarbeit mit Caritas Aargau. Caritas Schweiz hat schon vor vier Jahren die Kampagne «Armut halbieren» lanciert, das bis ins Jahr 2020 die Zahl armutsbetroffener Menschen in der Schweiz halbieren will. Um dies zu erreichen, muss sich sozialpolitisch etwas bewegen, muss sich strukturell etwas ändern.

Genügt denn das Sozialsystem in der Schweiz nicht?
Unser Sozialsystem ist gut, geht jedoch von einem traditionellen Familienmodell und von dauerhaften Anstellungen mit existenzsicherndem Lohn aus. Familienformen, Geschlechterrollen und Arbeitswelt haben sich seit dem Entstehen des Sozialstaats jedoch stark verändert, und es gibt immer mehr Menschen, die ungenügend abgesichert sind. Die neuen Risiken sind prekäre Arbeitsverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit und Scheidungen. Darum sind viele Alleinerziehende von Armut betroffen. Es nützt nichts, wenn man nur bei der Einzelperson ansetzt und meint, er oder sie müsse sich einfach mehr anstrengen. Wenn die Strukturen nicht stimmen, nützt alles Strampeln nichts.

Der Titel Ihres Vortrags lautet: «Armut in unserer Region – gibt’s das überhaupt?»
Ja, diese Armut gibt es. Das Bundesamt für Statistik und der Sozialbericht des Kantons Aargau liefern dazu konkrete Zahlen. Schweizweit ist fast jeder zehnte Einwohner arm oder stark armutsgefährdet, davon 260’000 Kinder. Im Aargau waren 2012 zwei Prozent der Bevölkerung auf Sozialhilfe angewiesen. Allerdings stellen sehr viele Menschen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, gar keinen Antrag.

Warum ist es nötig, die Menschen für das Thema Armut zu sensibilisieren?
Ich erlebe, dass Leute sehr erstaunt reagieren, wenn sie diese hohen Zahlen hören. Die zweite Reaktion ist dann oft: «Aber bei uns muss doch niemand verhungern!» Damit ist die so genannte absolute Armut angesprochen, die das Leben ganz direkt gefährdet. Diese absolute Armut verhindert unser System weitestgehend. Wir sprechen bei den Armutsbetroffenen von «relativer Armut».

Arm im Verhältnis zum Umfeld?
Ja. Wichtig ist dabei die soziale Teilhabe. Um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, braucht es mehr als Essen und ein Dach über dem Kopf. Menschen, die zum Beispiel kein Zugbillett vermögen, können ihre Freunde nicht besuchen und vereinsamen. Ein Kind kann zum Beispiel den Schwimmkurs nicht besuchen oder kein Instrument lernen. Armut schränkt ein, macht einsam und häufig auch krank.

Wie schwierig ist es, da einen Ausweg zu finden?
Meistens ist es sehr schwierig, wieder aus der Armut herauszufinden. Etwas ganz anderes ist beispielsweise, wenn ein Student ein paar Jahre knapp bei Kasse ist und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Der hat nämlich Aussicht auf ein gutes Einkommen, die mageren Jahre werden irgendwann vorbei sein. Den von Armut Betroffenen fehlen solche Perspektiven. Und finden sie wieder eine besser bezahlte Arbeit, müssen sie – mindestens im Kanton Aargau – das bezogene Sozialhilfegeld zurückzahlen. Das ist problematisch, es erschwert den Ausstieg aus der Armut.

Das «Neue Handbuch Armut Schweiz» spricht auch von «Armutsgefährdeten». Welche Gruppe ist damit gemeint?
Das sind Leute, häufig Familien, bei denen das Geld gerade so reicht. Verliert ein Familienvater seine Arbeit oder wird krank, reicht das Geld rasch nicht mehr aus, um die Fixkosten zu decken. Jede fünfte Person in der Schweiz ist nicht in der Lage, eine unvorhergesehene Ausgabe von 2000 Franken zu bezahlen, zum Beispiel eine unerwartete Zahnarztrechnung. Bei Armutsgefährdeten mag es «nüüt liide».

Was kann man als Privatperson tun, um von Armut betroffene Menschen in seiner Umgebung zu unterstützen?
Ich könnte mir vorstellen, dass es Betroffenen am ehesten hilft, wenn man sich auf eine echte Beziehung mit ihnen einlässt. Die Nachbarin und ihre Kinder zwischendurch zum Mittagessen einzuladen, schafft Kontakt und nützt mehr als einfach Geld zu geben. Geld geben allein hinterlässt ein Gefälle, eine Abhängigkeit, ein schlechtes Gefühl. Im freiwilligen Engagement hingegen liegt ein hohes Potenzial. Und ich finde es ganz wichtig, sich bewusst zu sein, dass Armut jeden von uns treffen könnte.

Marie-Christine Andres

 

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