10.05.2023

Koloniale Geschichten aus Aarau
Augustin Keller und Heinrich Zschokke wussten es besser

Von Eva Meienberg

  • Hans Fässler findet auf seinen Stadtführungen koloniale Spuren – auch in Aarau.
  • Samuel Hunzikers Tücher etwa waren Zahlungsmittel auf dem Sklavenmarkt.
  • Ebenso wichtig ist Hans Fässler die Geschichte des Widerstandes von Christkatholik Augustin Keller.

Im Kultur- und Kongresshaus Aarau, wo heute Reinhold Messner über seine Besteigung des Nanga Parbat spricht, traten im August 1898 die «Togomädchen» auf. «35 schöne Mädchen aus Westafrika» wurden im Aargauer Tagblatt angekündigt. Die Völkerschauen, wie sie damals genannt wurden, waren kommerzielle Zurschaustellungen von Menschen aus kolonisierten und eroberten Gesellschaften. Nicht nur in den europäischen und nordamerikanischen Metropolen seien die Ausstellungen beliebt gewesen, sondern auch in kleinen Städten wie Aarau, sagt der Historiker Hans Fässler.

«Spurensuche in Kolonialaarau»

Ausgehend von einer kurzen Führung durch die Ausstellung Camille Kaiser im Aargauer Kunsthaus führt Hans Fässler an Orte in Aarau, die von der Kolonialgeschichte der Stadt zeugen. Die Führung findet am 13. Mai 2023 um 16.30 Uhr statt und kostet 8 CHF.

Auf seiner Stadtführung Spurensuche in Kolonialaarau wird Hans Fässler beim Schlössli halt machen, das im 18. Jahrhundert einem Tuchhändler namens Samuel Hunziker gehörte. Dieser handelte mit bedruckten Baumwollstoffen, die als Indiennes bezeichnet wurden. Die Indiennes wurden nach Spanien, Portugal und Frankreich exportiert. Von dort gelangten sie via Afrika oder auf direktem Weg nach Süd- und Nordamerika. An der westafrikanischen Küste waren die Tücher das Zahlungsmittel für die Sklavinnen und Sklaven, die von dort verschleppt wurden.

Dekolonialer Aktivist

«Wenn man an der Oberfläche kratzt, dann kommen koloniale Geschichten zum Vorschein», sagt Hans Fässler. Seit 2018 macht der Historiker Führungen zur kolonialen Geschichte in St. Gallen. Der pensionierte Gymnasiallehrer und alt-Kantonsrat bezeichnet sich als dekolonialer Aktivist. Er sei nicht nur Historiker am Schreibtisch. Hans Fässler geht auch an Demos, schreibt Zeitungsartikel und nimmt auch mal für eine Stunde den Telefonhörer in die Hand, um Wählerinnen und Wähler für die Ständeratskandidatin der SP zu überzeugen. Seit 45 Jahren ist er Mitglied der sozialdemokratischen Partei. Aus einer Arbeiterfamilie stammend, sei er mit den Themen Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Geschichte von unten sozialisiert worden. Irgendwann habe er verstanden, dass es auch eine globale Ebene gebe. Damit verbunden die Fragen nach der Ausbeutung der Kolonien und der Sklaverei.

Koloniale Geschichten sind auch Geschichten des Widerstandes

Auf seinen Stadtführungen will Hans Fässler nicht nur Unrechts- und Opfergeschichten erzählen, sondern auch Geschichten von Widerstand. «Es gibt mir Kraft zu sehen, dass es in der Geschichte Menschen gegeben hat, die Widerstand geleistet haben», sagt Hans Fässler. Zu diesen Menschen gehört etwa Augustin Keller. Der liberal-radikale Politiker lebte im 19. Jahrhundert in Aarau. Er setzte sich für die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung ein und solidarisierte sich mit den amerikanischen Nordstaaten, die im Sezessionskrieg für die Befreiung der Sklavinnen und Sklaven kämpften. Augustin Keller war es auch, der gegen die ultramontanen konservativen Katholikinnen und Katholiken antrat. 1871 war er Mitbegründer der christkatholischen Kirche der Schweiz.

«Das war halt früher üblich» lässt Hans Fässler nicht gelten. In seiner Chronik «Eine Geschichte der Sklavereikritik bis 1864» zitiert der Autor den Dominikanermönch Antonio de Montesinos, der schon in seiner Predigt 1511 fragte, mit welchem Recht die «Indianer» in solch «grausamer und schrecklicher Sklaverei» gehalten würden. Aus humanistischen, religiösen, aufklärerischen Gründen hätten Menschen schon früh darauf hingewiesen, dass die Sklaverei dem Menschen unwürdig und ein Verbrechen sei, sagt Hans Fässler.

Wiedergutmachung

Mittlerweile gebe es viel Forschungsliteratur, welche die kolonialen Verflechtungen der Schweiz aufzeigten. Doch mit dem Wissen darum sei es nicht getan, ist Hans Fässler überzeugt. Darum hat der Aktivist das Schweizerische Komitee für Sklavereireparationen gegründet. In einem Dialogprozess zwischen den Nachkommen derjenigen, die von der jahrhundertelangen Ausbeutung profitiert haben, und den Nachkommen der Opfer soll eine Wiedergutmachung ausgehandelt werden.

Die Führung hält im Casinopark vor einer grün oxidierten Statue eines Mannes, der als «Schriftsteller, Staatsmann und Volksfreund» bezeichnet wird. Hans Fässler weiss von Heinrich Zschokke noch eine andere Geschichte zu erzählen, nämlich die Geschichte eines prononcierten Antirassisten.

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