14.04.2022

Kirchenmusiker Giuseppe Raccuglia führt mit Kirchenchor St. Nikolaus «Missa Due» von Bassani auf
Brugg feiert Ostern mit wiederentdeckter Messe

Von Peter W. Frey

  • Über 300 Jahre ruhten die Noten der «Missa Due» von Giovanni Battista Bassani im Archiv.
  • Durch Zufall gelangten sie aus Bolivien in die Hände von Kirchenmusiker und Chorleiter Giuseppe Raccuglia.
  • Passend zu Ostern darf diese wunderbare Musik nun zu neuem Leben erwachen.

Wenn am Ostersonntag um 11 Uhr der Kirchenchor in der Brugger St. Nikolaus-Kirche das Kyrie anstimmt und Posaunen erschallen, dann erklingt Musik, die in der Schweiz mit grosser Wahrscheinlichkeit noch nie oder seit 300 Jahren nie mehr aufgeführt wurde. Es ist die «Missa Due» des italienischen Barockkomponisten Giovanni Battista Bassani (zirka 1650-1716). Er war Kapellmeister am Dom von Ferrara und später an der Basilika Santa Maria Maggiore in Bergamo und komponierte neben Messen und Motteten auch Opern und Oratorien. Die meisten davon sind verschollen. Erhalten geblieben ist jedoch eine Sammlung von sechs Messen, die 1709 in Augsburg unter dem Titel «Acroama Missale» gedruckt wurde. Dazu gehört auch die «Missa Due».

Im Dunkel der Geschichte

Ob und wo diese Messen von Giovanni Battista Bassani in Europa je aufgeführt wurden, liegt im Dunkel der Geschichte. Belegt ist hingegen, dass sie nach 1730 in den Jesuitenmissionen im Tiefland von Bolivien in Südamerika erklangen (siehe Kasten unten). In der Alten Welt wird von den 300 Jahre alten Noten ein Exemplar in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt und eines in der Sammlung der Allgemeinen Musikgesellschaft AMG in der Zentralbibliothek Zürich, wo viele Werke von Bassani zu finden sind. Zudem ist eine Abschrift im Nachlass von Johann Sebastian Bach bekannt. Es handelt sich, so schätzt es der Brugger Kirchenmusiker Giuseppe Raccu​glia ein, um sehr aussergewöhnliche Musik.

«Einmalige Musik»

«Ich finde diese Musik einfach einmalig», sagt er begeistert. Das motivierte Raccuglia, ausgebildet an den Musikhochschulen von Palermo und Freiburg im Breisgau und seit 2014 in Brugg tätig, die Noten der «Missa Due» neu aufzubereiten auf der Basis des Originals, das als Faksimile im Internet verfügbar ist. «Eine tolle Arbeit» nennt es Raccuglia: «Es ist doch wunderbar, wenn du Musik vor dir hast, die vor dir seit dem 18. Jahrhundert sehr wahrscheinlich niemand mehr gehört hat.»

Eine aufwendige Arbeit aber auch. Dass das Notenbild des Originals komplett anders aussieht als die heutige Notation, war noch das kleinste Problem. Nein, Raccuglia musste die ganze Messe mit allen Chor-, Solo- und Instrumentalstimmen von Grund auf und Schritt für Schritt neu aufbauen. Denn publiziert wurden die Werke damals nur in Einzelstimmen, nicht auch als Partitur mit allen Stimmen. «Ich habe also zuerst die Basslinie, den sogenannten Generalbass, transkribiert und dann Stimme um Stimme hinzugefügt und immer wieder kontrolliert, ob auch alles zusammenpasst», erläutert Raccuglia.

Er hat dabei auch einige wenige Fehler in den Noten entdeckt und sie ausgebügelt. Die Stimmen übertrug Raccuglia nicht handschriftlich, das hätte viel zu lange gedauert. Dafür gibt es heute spezielle Computerprogramme, welche die Eingaben mittels einer sogenannten Miditastatur und Maus direkt am Bildschirm in Noten umsetzen. Auch so kamen für die Aufbereitung der «Missa Due» fünfzig Stunden Arbeit zusammen – «mindestens», lacht Raccuglia.

Eingängig, tänzerisch

Der Brugger Kirchenmusiker ist überzeugt, dass die Messen von Giovanni Battista Bassani sehr geeignet sind für ambitionierte Kirchenchöre. «Diese Musik ist sehr transparent, ja kristallklar. Es sind einfache Harmonien und eingängige Melodien.» Einzelne Teile der «Missa Due» haben gar etwas Tänzerisches an sich, und man ist fast versucht mitzupfeifen. Kommt dazu, dass Chöre und Begleitensembles die Messen aus der «Acroama Missale» flexibel ihren stimmlichen und instrumentalen Möglichkeiten anpassen können. So kann zum Beispiel problemlos auf die Posaunen verzichtet werden.

Von den Werken Bassanis seien erst Bruchstücke des Gesamtwerks aufgearbeitet und neu publiziert worden, stellte der Musikwissenschaftler Richard Haselbach in seiner Doktorarbeit über den Komponisten, 1955, fest. Seither hat sich daran nicht viel geändert: «Das meiste harrt noch als ungehobener Schatz in den Kammern der Bibliotheken.» Einen Teil dieses Schatzes auferstehen zu lassen, hat sich nun Giuseppe Raccuglia zur Aufgabe gemacht. Noch vor der Schweizer Erstaufführung der «Missa Due» hat er begonnen, eine zweite Bassanimesse aufzuarbeiten. Die restlichen vier Werke aus der Sammlung «Acroama Missale» sollen folgen und so interessierten Chören allgemein zugänglich gemacht werden. Wie hatte es doch Bassanis Biograph Francesco Pasini bereits 1905 geschrieben: «Giovanni Battista Bassani ist ein Künstler, der es verdiente, besser bekannt zu sein.»

In Europa vergessen, in Bolivien gefunden

Vor rund 40 Jahren kamen bei der Restau​rierung der Kirchen in den einstigen Jesuitenmissionen im Tiefland von Bolivien einige Tausend Notenblätter aus dem 18. Jahrhundert zum Vorschein. Darunter befanden sich auch die Partituren von mehreren Messen. Musikwissenschaftler fanden bald einmal heraus, dass es sich dabei um bearbeitete Versionen der sechs Messen aus der Sammlung «Acroama Missale» von Giovanni Battista Bassani handelte.

«Wir wissen nicht, wer die Noten nach Bolivien brachte», sagt der polnische Steyler Missionar und Musikwissenschaftler Piotr Nawrot, bester Kenner der Barockmusik aus den Jesuitenmissionen. Es waren wohl die Missionare selbst, möglicherweise sogar ein Schweizer. Der Baarer Jesuitenpater Martin Schmid wirkte von 1730 bis 1767 im Gebiet der Chiquitos-Indios. «In den Missionen wurden die Originalpartituren von den indigenen Musikern vereinfacht und die schwierigsten Teile gestrichen», erläutert Nawrot. So wurde in der «Missa Due», die an Ostern in Brugg aufgeführt wird, das Kyrie um rund die Hälfte gekürzt und die im Original vorgesehenen Posaunen fielen weg.

Überdies wurden die Werke umbenannt. Aus der «Missa Uno» wurde so die «Missa San Xavier», aus der «Missa Due» die «Missa Santa Ana». Es war eine Partitur der «Missa Santa Ana», die der Autor vor einigen Jahren von einer Bolivienreise mitbrachte und Giuseppe Raccuglia übergab, die beim Brugger Kirchenmusiker die Begeisterung für die Musik Bassanis weckte.

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