01.12.2022

Die Macherinnen von Engelskleider.ch wissen, was es heisst, ein Kind zu verlieren
Das erste und letzte Kleidchen

Von Sylvia Stam/Kantonales Pfarreiblatt Luzern, chb

  • Würdevoll Abschied nehmen von einem früh verstorbenen Kind. Das ermöglichen trauernden Eltern drei Frauen, die aus gespendeten Brautkleidern sogenannte «Engelskleider» nähen.
  • Ihre Idee und ihre Kreationen kommen so gut an, dass sie kaum noch nachkommen mit der Herstellung von Kleidchen, Bettchen und Cocoons.
  • Für ihr nicht gewinnorientiertes Angebot erhielten die Macherinnen von Engelskleider.ch dieses Jahr den G&G-Award des Schweizer Fernsehens.

«So eine Naht am Rücken, das geht gar nicht!», sagt Manuela Achermann dezidiert. «Das Kind soll weich liegen.» In der Hand hält Mäny, wie sie sich nennt, ein gespendetes Brautkleid. Aus solchen näht sie zusammen mit ihren Kolleginnen Ursina Troxler und Monica Wyss Kleider für Kinder, die schon im Mutterleib oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Die drei Frauen sprechen von Engelskindern – auch Sternenkinder genannt – und Engelskleidern.

Der Wunsch, Hochzeitskleidern eine neue Verwendung zu geben, ging von Ursina Troxler (44) aus. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Flüelen. «Mit Brautkleidern sollte man nach der Hochzeit etwas machen», fand sie. Über einen Facebookaufruf kamen Mäny Achermann (45) aus Entlebuch und Monica Wyss (44) aus Büsserach dazu. Alle drei kennen die Erfahrung, dass das eigene Kind noch während der Schwangerschaft stirbt.

Tabuthema Abort

«Mein Abort wurde im Spital nicht thematisiert», erzählt Achermann, «mich hat das damals jedoch mehr getroffen, als ich zuerst wahrhaben wollte.» Troxler hat zwei Kinder in der frühen Schwangerschaft verloren. «Die Ärztin sagte zu mir: ‹Sie sind noch jung, Sie können es nochmals probieren.› Das hat mich sehr schockiert!» Auch Wyss, die beim Gespräch in der alten Ziegelhütte in Flüelen nicht dabei sein kann, hat mehrere Kinder verloren. Das Nähen von Engelskleidern habe ihr geholfen, das Erlebte zu verarbeiten, sagt Achermann, heute Mutter von drei Teenagern. Die Frauen möchten auch dazu beitragen, dass dieses Thema nicht totgeschwiegen wird.

«Natürlich macht es uns traurig, immer wieder mit dem Tod von Kindern konfrontiert zu sein», sagt Troxler, «aber es ist auch tröstlich, zu wissen, dass das Kind ein schönes Kleid trägt oder eine weiche Decke hat, wenn es in den Himmel geht.» Der Abschied auch von einem früh verstorbenen Kind soll «würdevoll» sein. Wohl deshalb wenden die Frauen beim Nähen eine auffallend grosse Sorgfalt auf: Druckknöpfe und Nähte am Rücken werden vermieden, Bettli und die noch kleineren Cocoons sind gefüttert oder mit Faserpelz gepolstert. Die Produkte sind mit Maschen, Bändern und Stickereien verziert, jedes ist ein Unikat, auch wenn zwei aus demselben Brautkleid geschneidert wurden. «Wir würden nicht dermassen ‹gänggele›, wenn es uns nicht selbst berühren würde», erklärt Ursina Troxler mit Bezug auf diese liebevollen Details.

Die besten Nähkenntnisse hat Achermann, gelernte Bäckerin-Konditorin. «Geht nicht, gibt’s nicht», lautet ihr Credo. «Ich versuche, mit dem Stoff, den das Kleid bietet, zu spielen», sagt sie. Was es für die Beisetzung der bisweilen winzig kleinen Körper braucht, wissen sie von zwei Bestatterinnen: Die Bettli und Cocoons müssen unten verschliessbar sein, damit das Kind nicht herausfällt. «Fester Tüll gibt den Bettli Stabilität», sagt Achermann.

Kaum Werbung nötig

Gestartet ist das Projekt 2017, inzwischen sind die drei Frauen als Verein organisiert. Werbung ist offenbar kaum nötig. Einige Hebammen, Spitäler und Bestattungsunternehmen wissen von ihrem Angebot. Jeweils im Frühling und im Herbst machen sie über Facebook einen Aufruf für neue Brautkleider. So kämen pro Jahr jeweils rund 50 Kleider zusammen. Aus einem Brautkleid erstellt das Team zwei bis drei Kinderkleidchen, Bettli oder Cocoons, etwa 120 Teile pro Jahr.

Genäht wird in der je eigenen Stube, ein Atelier haben die Frauen nicht. Alle zwei Monate treffen sich die drei zu einem Austausch über Nähschwierigkeiten. «Wir kommen kaum nach mit Nähen», sagt Troxler, die daher eine Warteliste für die Annahme von Brautkleidern führt. Gelagert werden diese in einem Raum ihrer Eltern. «Für die Spenderinnen ist die neue Verwendung ihrer Kleider stimmig: Ein Kleid der Liebe für Kinder der Liebe», sagt Achermann. Wenn eine Anfrage für ein Engelskleid via Kontaktformular auf der Website der drei (www.engelskleider.ch) hereinkommt, dann fährt eine von ihnen persönlich zu den betroffenen Eltern und bringt eine Auswahlbox mit. Geliefert wird in der Regel innerhalb eines halben Tages, schweizweit.

Um Gotteslohn

Die Engelskleider sind ebenso kostenlos wie ihre Lieferung. «Wir bekommen viele Spenden», sagt Troxler. Nicht selten werde einem Brautkleid ein Geldschein beigelegt, an Hochzeiten und Beerdigungen würden manchmal Kollekten für sie aufgenommen. Mit dem Geld werden die Unkosten für die Boxen gedeckt und Zusatzmaterial wie Maschen, Knöpfe oder Bänder gekauft.

Immer wieder erhalten die drei Frauen auch Briefe, in denen Spender und Empfänger sich bedanken. «Einmal schrieb eine Spenderin, sie habe fünf Kinder früh verloren. Es wäre für sie sehr wertvoll, wenn ihr Kleid einem anderen Engelskind zugute käme», erzählt Troxler. «Das sind schwierige Momente», fügt Achermann an. «Da frage ich mich: Ist das wirklich fair?» – «Man wird demütig», sagt ihre Kollegin und erwähnt ihre eigene, «wunderbare Tochter». Gleichzeitig, sagt Achermann, werde ihnen bewusst: «Wir machen das Richtige, wenn wir anderen in solch schwierigen Momenten ein klein wenig Licht bringen können.»

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