16.02.2023

Gespräch mit dem Autor Thomas Gröbly
«Das Leben ist unverfügbar»

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Der Badener Autor Thomas Gröbly nimmt in seinem Buch «Einen Augenblick staunen» seine Krankheit und die Zukunft seines Enkels als Ausgangspunkt für Fragen zu Leben und Tod. «Ich war fürs Buch motiviert, weil ich mir grosse Sorgen zur Zukunft mache und besser verstehen wollte», sagt Thomas Gröbly.
  • Gröbly sagt: «Wir leben in einer Zeit grossen Unbehagens. Die Kirche hat die Aufgabe und Chance, diese Gefühlslage zu thematisieren.»
  • Am Donnerstag, 9. März, um 19.30 Uhr findet in der Reformierten Kirche Möriken eine Trommel-Lesung mit Buchpräsentation statt.

Stufe um Stufe erklimmt Thomas Gröbly die schmale Treppe. Langsam und konzentriert setzt er Fuss um Fuss auf das glattgeschliffene Holz. Dann steht er im Wohnzimmer. Aus dem Fenster fällt sein Blick zuerst auf den Neubau eines Schulhauses, dann auf den Aufstieg zum Lägerngrat.

Früher war Gröbly leidenschaftlich gerne in Laufschuhen am Lägernhang unterwegs. Bis er vor neun Jahren den einen Fuss nicht mehr richtig heben konnte, immer wieder stolperte und schliesslich zum Arzt ging.

Trommel-Lesung und Buchpräsentation

Donnerstag, 9. März 2023, 19.30 Uhr, in der Reformierten Kirche, Möriken. Eintritt frei, Kollekte.

Schlagzeug: Tony Renold / Lesung: Thomas Gröbly und Rahel Lämmler

Lesung am Donnerstag, 9. März, in der Reformierten Kirche in Möriken. | Foto: zvg

Weniger, langsamer, kürzer

Gröbly spricht langsam und wählt seine Worte sorgfältig. Nach der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), einer degenerativen Nervenerkrankung, die als unheilbar gilt, musste er sich – damals Ethikdozent, Ritualbegleiter und vielseitig engagiert – mit der Perspektive «weniger, langsamer, kürzer» anfreunden. Eine Herausforderung in unserer Gesellschaft, in der die Maxime «Grösser, schneller, weiter, mehr» tief «in Geist und Seele verankert ist», wie Gröbly sagt. Er hat erkannt: «Die spirituelle Herausforderung besteht darin, neu zu denken und zu fühlen. Da kann einem die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben und Tod ganz viel zeigen.»

Am Anfang standen intensive Gefühle

An seiner Auseinandersetzung mit Sterben und Tod lässt Gröbly die Leserinnen und Leser im Buch «Einen Augenblick staunen» teilhaben: «Da ich an einer schweren Krankheit leide und mich mit meinem eigenen Sterben auseinandersetze, interessiert mich die Frage, was ich vom Sterben fürs Leben und Lieben lernen kann.»

Zu Beginn des Schreibens, erklärt Thomas Gröbly im Gespräch, standen intensive, widerstreitende Gefühle: «Ich war fürs Buch motiviert, weil ich mir grosse Sorgen zur Zukunft mache und besser verstehen wollte. Es war auch eine Auseinandersetzung mit vielen Gefühlen wie Wut, Unverständnis, Rebellion, Nicht-Wahrhabenwollen und Ohnmacht angesichts von Gedankenlosigkeit, Ignoranz und Verantwortungslosigkeit gegenüber Krieg, Armut, Ausbeutung und Naturmisshandlungen.»

Suchen nach Sprache

Obwohl Thomas Gröbly 20 Jahre lang als Ethikdozent an einer Fachhochschule unterrichtet hat, verwendet er den Begriff «Ethik» in seinem Buch nicht. «Die Ethik argumentiert sehr rational. Rational betrachtet, wissen wir eigentlich alles. Aber das Wissen ist nicht emotional hinterlegt.» Mit seinen Worten und Gedichten wirkt Gröbly auf einer anderen Ebene: «Für mich sind Gedichte ein Suchen nach Sprache jenseits rationaler Argumente, verknüpft mit einer Ahnung, dass Sie uns auf einer geistigen und seelischen Ebene berühren und betroffen machen.» Ein Wort kann treffen, wo Argumente nicht hin reichen. Gedichte und Gedanken würzt Gröbly häufig mit einer Prise Humor, sie macht Schweres leichter und drückt Zuneigung zum Leben und den Menschen aus.

Das tastende Suchen nach dem richtigen Wort wendet Gröbly im Buch auch auf die «Nachhaltigkeit» an: «Nachhaltigkeit bedeutet nichts anderes als Grenzen einhalten», erklärt er. «Wenn ich sage, dass ich Tieren und Pflanzen Gewalt antue, bezeichnet das jedoch viel präziser, was ich mache, als wenn ich sage, ich sei nicht nachhaltig.» Die Tradition der Gewaltfreiheit ist Gröblys geistige Heimat. Im Buch verwendet er dafür den Begriff «Friedfertigkeit».

Blaustern und Soldanellen

Thomas Gröblys zweiter Gedichtband «Dazwischen» trägt Blausterne auf dem Einband. | Foto: zvg
Von Thomas Gröbly gibt es zwei weitere Bände mit Gedichten aus den Jahren 2018 bis 2020. Seine Lebenspartnerin sammelte die Gedichte, kopierte die Seiten und band die «Raubkopien», wie Thomas Gröby sie im Gespräch scherzhaft nennt, zu einem Heft. Aus diesem Anstoss ein paar Jahre vorher entstanden die Lyrikbände «Inmitten» und «Dazwischen».

Thomas Gröblys Büchern, die in seinem eigenen Verlag «Edition Volles Haus» erschienen sind, sieht man seine Liebe zur Botanik an. Eine Baumscheibe, Soldanellen und Blausterne schmücken die Buchumschläge. Pflanzen mit Symbolwert, wie der Autor erläutert: «Soldanellen, auch Alpenglöckchen genannt, wachsen in den Bergen, in grosser Höhe, strecken ihre Blüten sogar durch den letzten Schnee dem Licht entgegen.» Der Blaustern wächst in unseren Wäldern und blüht im Frühling als einer der ersten. Auf Lateinisch heisst er «scilla». Von dieser Blume hat Thomas Gröblys Tochter ihren Namen. Und sie war es wiederum, die die Umschläge der Bücher gestaltet hat.

Schneeballeffekt

Gröbly ist zwar ordinierter reformierter Pfarrer, hat aber beruflich stets ausserhalb der Institution Kirche gewirkt. Auch für die Kirche sei es wichtig, dass sie eine suchende, sorgfältige Sprache pflege und von einer nichtwissenden Position aus spreche, ist er überzeugt. «Wir leben in einer Zeit grossen Unbehagens. Viele Menschen merken, dass es so nicht weitergehen kann. Einige vertrauen auf Technologien, doch diese werden es nicht richten, wenn wir nicht spirituell und sozial anders handeln.» Die Kirche habe die Aufgabe und Chance, diese Gefühlslage zu thematisieren. Gröbly plädiert dafür, in Gesprächskreisen miteinander zu sprechen, immer wieder. «Ich hoffe darauf, dass etwas passieren könnte, wovon wir nicht zu träumen wagen.»

Im Jahr 2100

Gröbly ist nicht nur gelernter Landwirt, Theologe, Ethiker und Verlagsleiter, sondern auch Grossvater. Die zärtliche Sorge um die Zukunft seines Enkels bringt er im Buch mit zwei Briefen und im Gespräch zum Ausdruck: «Was wird im Jahr 2100 sein? Ich bin einerseits pessimistisch, andererseits will ich diese negative Sicht nicht zulassen.» Hoffnung geben ihm die vielen kleinen Initiativen, in denen Menschen neue Modelle leben: «Da wird eine neue Praxis, ein neues Denken und   neue Weltbilder eingeübt». Die Erkenntnisse, die Thomas Gröbly aus der Auseinandersetzung mit seiner Endlichkeit zieht, sind Teil dieses neuen Denkens: «Die Beschäftigung mit dem Sterben hat mich gelehrt, dass ‘langsamer und weniger’ gut ist. Dass alles miteinander verbunden und das Leben unverfügbar ist.»

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