07.11.2021

Wie erreiche ich mit meiner Predigt das Publikum?
Den richtigen Ton zu treffen, ist eine Kunst

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • In diesen Tagen erscheint die Zeitung «zVisite» als Beilage verschiedener kirchlicher Publikationen in der Deutschschweiz.
  • Aktuelles Thema der interreligiösen Zeitung ist «Das Wort in den Religionen».
  • Der Sprechcoach Markus Wentink analysierte Videos von Predigten. Dabei entdeckte er Floskeln, Drohgebärden und Machtgebaren. Um das Publikum zu begeistern, braucht es mehr als Worte.

Wer das Stichwort «Predigt» bei Youtube eintippt, findet von der flammenden Endzeitdarstellung bis zur nüchternen Suren­-Ausle­gung die ganze Palette religiös­-rhetorischer Kunst. Markus Wentink, katholischer Theologe und Coach für mündliche Kommunikation, ist bereit, in dieses Universum einzu­ tauchen. Vorher hält er fest, worauf er bei der Predigt­-Analyse beson­ders achtet: «Was ist das Ziel? Wel­che Stimmung entsteht? Geht es um dialogische Rhetorik oder um blos­se Verkündigung göttlicher Wahr­heit? Und natürlich: Wie wirkt die Rednerin oder der Redner?»

«Was bei einem Date schlecht ist, funktioniert auch in der Predigt nicht»

Den Anfang macht eine refor­mierte Pfarrerin. Sie predigt aus den Büroräumlichkeiten ihrer Kirchge­meinde und steigt ein mit: «Die Gna­de von Gott sei mit euch.» Nicht optimal, findet Wentink, denn mit dieser Aussage präsentiere sich die Pfarrerin in einer Machtposition. In einem Gottesdienst sollten in­klusive Formeln verwendet wer­den, die die Leute einladen. Zum Beispiel: «Wir feiern den Gottes­dienst im Namen des Vaters.» In der Überleitung zum Bibeltext erwähnt die Sprecherin dann, der Psalm, um den es heute gehe, gehöre zu ihrer täglichen Meditation. «Was beim Tinder­-Date schlecht ist, funktio­niert auch beim Sprechen im litur­gischen Kontext nicht», meint Wen­tink. Zu viel von sich selber reden, veranlasse die Zuhörenden abzu­hängen. «Wer die Leute abholen will, muss sich in ihre Welt bege­ben und diese ansprechen.»

Aktuell: Woche der Religionen

Diese Woche (6.-14. November 2021) wird die «Woche der Religionen» begangen. Sie hat jedes Jahr in der ersten Novemberwoche ihren festen Platz in der interreligiösen Agenda.

Rund 100 Veranstaltungen laden zu Begegnung und Dialog zwischen den in der Schweiz ansässigen Religionen und Kulturen ein. Organisiert wird die Woche vom interreligiösen Netzwerk Iras Cotis.

Saft im Bart des Sprechers

Im nächsten Video filmt ein Rabbi seinen Religionsunterricht. Es geht um Alltagsfragen, die er anhand der Thora beantwortet. Heute sitzt der Herr mit grauem Bart in seiner pri­vaten Küche, mixt Bloody Marys und verteilt sie an seine Schüler.

Eine gut verständliche Sprache und eine überzeugende Körperhal­tung, attestiert ihm Experte Wentink. «Er stellt etwas dar, von dem er weiss, dass es nicht Allgemeingut ist. Sei­ne Welt vertritt er selbstbewusst, manchmal fast etwas trotzig.» Der Rabbi lässt die Zuschauer nah an sich ran. Sie sind fast real dabei, wenn ihm Saft in den Bart tropft. Markus Wentink schätzt diese Au­thentizität: «Er hat zwar unbestrit­ten eine sehr orthodoxe Sicht der Dinge, wirkt aber echt und ver­steckt nichts.» Zum Schluss sagt der Rabbi: «Ich sprech’ jetzt einen Segen.» Gut so, findet Markus Wen­tink: «Er führt den Segen ein und nimmt so die Zuhörenden mit.»

Angriffiger Igel

Bei der Predigt eines islamischen Scheichs achtet Wentink besonders auf die Gestik. Der Redner macht den «Igel»: Er legt die Handflächen aneinander und zeigt mit gestreck­ten Fingern auf die Zuhörer. «Das wirkt angriffig.» Allerdings sei Gestik stark kulturell geprägt und müsse deshalb vorsichtig interpre­tiert werden.

Kämpferisch zeigt sich auch ein Mufti, der über den Umgang mit dem Videoportal Tiktok spricht. Er klopft auf den Tisch, reisst die Augen auf, zieht die Augenbrauen hoch, droht mit dem Finger. Der Sprechcoach attestiert ihm, dass er wach und engagiert wirke, aber auch bedrohlich: «Dass er Tiktok gefährlich findet, begreift jeder, oh­ne die Sprache zu verstehen.»

Die gemeinsame Sache

Im letzten Video tritt der Pastor ei­ner beliebten Freikirche auf. Er steht mit Mikrofon auf der Bühne, die Bibel unter den linken Arm ge­klemmt. Das Buch scheint ihn zu blockieren. «Weglegen», rät Mar­kus Wentink. Der braungebrannte Mittfünfziger macht kaum Pausen, atmet schnappend und bleibt im­mer mit der Stimme oben. «Nachdenken ist hier nicht gefragt», kon­statiert Wentink. Er vermisst den Zuschauerbe­zug. «Es braucht auch mal eine Relativierung im Stil von: Ich weiss nicht, wie es euch geht.» Hier miss­achte der Redner einen Grundsatz der kooperativen Rhetorik: «Wer spricht, muss Fragen und Gedanken der Zuhörer ernst nehmen und das Besprochene zur gemeinsamen Sa­che machen.»

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.