10.06.2019

Der kollektive Unterbruch ist wertvoll

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Regelmässig im Frühling geniessen die Schweizer freie Tage dank der religiösen Feiertage Auffahrt und Pfingsten.
  • Die Denkfabrik «Avenir Suisse» schlug kürzlich vor, religiöse Feiertage abzuschaffen und sie den Arbeitnehmenden als flexible Freitage zur Verfügung zu stellen.
  • Demgegenüber betonen die römisch-katholische Landeskirche Aargau, das Bistum Basel sowie der Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki, wie wertvoll der kollektive Unterbruch der Arbeit ist.

 

Die Aufgabe von «Avenir Suisse» ist es, marktwirtschaftliche, liberale und wissenschaftlich fundierte Ideen für die Zukunft der Schweiz zu erarbeiten. Die Denkfabrik schreibt auf ihrer Webseite: «Der Think-Tank identifiziert relevante Themen, weist frühzeitig auf Handlungsbedarf hin und erarbeitet Lösungsvorschläge. Die Ideen von Avenir Suisse sollen in Politik und Gesellschaft den Boden für zukünftige Reformen bereiten.» Vergangene Woche hat «Avenir Suisse» anlässlich von Auffahrt die religiösen Feiertage als für die Schweiz relevantes Thema ausgemacht. Vor dem Hintergrund zunehmender Säkularisierung und angesichts einer multireligiösen Gesellschaft plädierte die Organisation dafür, die religiösen Feiertage aufzuheben und sie den Arbeitnehmerinnen und -nehmern als flexible freie Tage zur Verfügung zu stellen.

Ein Feiertag kostet 2 Milliarden Franken

In diesem Zusammenhang rechnete Fabian Schnell, Ökonom bei «Avenir Suisse» vor, was ein Feiertag wie Auffahrt kostet. 2,8 Milliarden Wertschöpfung pro Tag gingen streng theoretisch verloren, wenn ein Grossteil der Leute einen Tag freimacht. Berücksichtige man weitere Faktoren wie die erhöhte Arbeitsleistung vor und nach Feiertagen und jene, die trotz Feiertag arbeiten, «ergibt sich pro fehlendem Arbeitstag ein Ausfall von etwa 2 Milliarden», wie Fabian Schnell vorrechnet.

«Radikale Idee»

Der Kirchenratspräsident der römisch-katholischen Kirche im Aargau, Luc Humbel, reagiert gelassen auf den Vorstoss von «Avenir Suisse»: «Es ist die Aufgabe von Think-Tanks, zur Debatte auzurufen. Wenn diese dazu dient, einen bewussteren Umgang mit den kirchlichen Feiertagen zu provozieren, dann unterstützen wir dieses Vorhaben.» Die «radikale Idee», die freien Tage quasi als zusätzliche Ferientage auszugestalten, finde gesamtgesellschaftlich keinen Rückhalt, schätzt Luc Humbel. Denn auch wenn diese Feiertage nicht von allen religiös gestaltet würden, so hätten sie ihren Wert auch darin, dass es bewusste Unterbrüche vom Arbeitsalltag sind, welche alle gemeinsam begehen.

Feiertage ermöglichen Gemeinschaft

Bezöge jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer die freien Tage an einem selbst gewählten Termin, entfielen vielleicht die langen Staus vor dem Gotthard an Auffahrt. Doch der Gesellschaft ginge etwas Essenzielles verloren, wie der Theologe und Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki gegenüber Radio SRF ausführte: «Viele kennen die konkrete Bedeutung der religiösen Feiertage zwar nicht. Aber das heisst nicht, dass sie die Tage nicht mit einer Bedeutung füllen, die weit über die Arbeit hinausgeht. Ein Student sagte mir, Auffahrt müsse bleiben, weil das der Termin für das gemeinsame Familienfest sei. Solche Dinge kann man nicht einfach individualisieren. Das verlagert die Gestaltung der Gesellschaft auf den Einzelnen. Und damit ist der Mensch meiner Ansicht nach überfordert.»

«Feiertage machen Musik aus unserem Leben»

Auch Hansruedi Huber, Kommunikationsverantwortlicher des Bistums Basel, betont die Bedeutung des Kollektiven: «Obligatorische Feiertage haben einen grösseren Erholungswert als individuelle Freitage, weil die Arbeit kollektiv unterbrochen wird. Thomas Wallimann-Sasaki fand ein passendes Bild für den Wert der Feiertage: «Die Feiertage machen Musik aus unserem Leben, indem sie ihm einen Rhythmus geben.» Man könne auch sagen, Feiertage seien das Salz in der Suppe der täglichen Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens. Und zu diesem Salz müsse man Sorge tragen.

Zur Ruhe kommen, nachdenken, Sinn suchen

Auf der Website von «ethik22» führt Thomas Wallimann-Sasaki diesen Gedanken weiter aus: «Mensch-Sein ist nicht nur Arbeiten, sondern auch das Gestalten, wie wir zusammen leben sowie die Sehnsucht nach Sinn.» Daher seien Feiertage eine Erinnerung, «dass Leben nicht nur aus Arbeiten besteht, sondern auch von der Suche nach Sinn- und Wertorientierung geprägt ist.» Feiertage erinnerten daran, «dass wir alle gemeinsam diese Suche ‹feiern› dürfen.» Auch Bistumssprecher Hansruedi Huber sieht nach wie vor einen spirituellen Wert in den religiösen Feiertagen: «Mit etwas Phantasie sind die christlich aufgeladenen Feiertage auch für Menschen anderer religiöser Herkunft oder für Konfessionslose ein Impuls, zur Ruhe zu kommen, über das Leben nachzudenken oder mit anderen zu feiern.»

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