22.02.2021

2020 sind ungefähr gleich viele Aargauer aus der Römisch-Katholischen Kirche ausgetreten wie 2019
«Die Glaubwürdigkeit leidet weiterhin»

Von Andreas C. Müller

  • Bei der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau sanken die Mitgliederzahlen von 2019 zu 2020 um etwas mehr als zwei Prozent von 210’537 auf 206’303 Mitglieder. Auch wenn dieser Rückgang bescheiden daher kommt, bereiten die anhaltend hohen Austritte Sorgen.
  • Kirchliche Strukturen erscheinen in der heutigen Gesellschaft zunehmend fremd, erklärt Luc Humbel die hohe Zahl an Kirchenaustritten.
  • Der Präsident des Kirchenrates der Landeskirche Aargau sieht aber auch, dass in der Coronakrise die kirchlichen Leistungen im Bereich der Seelsorge und Diakonie sehr geschätzt werden.

Verluste auch bei den Christkatholiken

Auch die Christkatholische Kirche vermeldet fürs 2020 Verluste. Haben sich die Mitgliederzahlen in den Jahren 2015 bis 2019 mehr oder weniger stabil gehalten, so erfolgten auf 2020 erstmals stärkere Mitgliederrückgänge – nach jeweils 2 bis 3 Prozent in den vergangenen Jahren sind es nun 5 Prozent. Die Mitgliederzahl sank von 2’753 auf 2’630 Mitglieder.

Bei einem Drittel der 123 Personen handle es sich um Konfessionswechsel, so Ernst Blust, Präsident der Christkatholischen Kirche im Aargau. «Es kommt oft vor, dass Leute merken, dass sie eigentlich römisch-katholisch sind und nicht christkatholisch, nachdem sie sich zunächst als christkatholisch bei ihrer Wohngemeinde angemeldet haben. In den meisten dieser Fälle erfolgt administrativ ein Konfessionswechsel zu römisch-katholisch. Die christkatholische Kirchgemeinde Aarau hat 2020 damit begonnen, Personen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit falsch registriert sind, systematisch zu kontaktieren, um die Konfessionszugehörigkeit zu klären.»

Die reformierte Landeskirche im Aargau will Ihre Zahlen Anfang April publizieren.

Luc Humbel, 2019 haben 4’672 Menschen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt. Sie meinten damals gegenüber Horizonte: «Das sind sehr viele. Die Kirche ist in der Krise.» Im vergangenen Jahr waren es nun mit 4’752 sogar noch leicht mehr Austritte. Hält die Krise unvermindert an?
Luc Humbel: Die Austritte haben sich auf hohem Level stabilisiert. Dies hängt damit zusammen, dass die Krise anhält, viele Gläubige aber gerade in der aktuellen Krisenlage die Dienste der Kirche im seelsorgerischen und diakonischen Bereich wieder vermehrt schätzen.

Nachfrage: Dass die Dienste der Kirche wieder vermehrt geschätzt werden, woran zeigt sich das?
Im Bereich der Diakonie haben viele Pfarreien verschiedene Dienste angeboten – beispielsweise einen Besuchsdienst oder Telefonkontakte. Das wurde geschätzt. Und was die Seelsorge betrifft, haben wir schon gemerkt, dass das Bedürfnis nach einer Teilnahme am Gottesdienst spürbar war. Fast alle Gottesdienste mit einer Personenbeschränkung auf 50 Personen sind gut besucht worden, wie ich weiss. Auch die Zuschauerzahlen der virtuellen Übertragungen belegen das.

Die Austritte sind das eine, aber zunehmend sterben ja auch mehr alte Kirchenmitglieder, als dass neue durch die Taufe in die Gemeinschaft kommen. Das sieht man den Mitgliederzahlen nicht an. Wird das immer noch durch die Zuwanderung aufgefangen?
Auch dieser Effekt spiegelt sich in den Mitgliederzahlen. Die Anzahl der Taufen ist per se rückläufig – auf Grund von Corona wohl aktuell noch verstärkt, so wie bei den Hochzeiten auch.

Wie sehr ist eigentlich die Überalterung in der Mitgliederstruktur ein Problem? Muss in den kommenden Jahren mit massiven Einbrüchen der Mitgliederzahlen gerechnet werden, die nicht mehr von der Zuwanderung kompensiert werden können? Womit rechnen Sie?
Vorab ist es wichtig, dass wir uns nicht einzig an Zahlen orientieren. Von der Alterspyramide ist nicht einzig die Kirche betroffen. In welchem Mass weiterhin eine «katholische Zuwanderung» den Mitgliederschwund zu kompensieren vermag, ist schwierig zu prognostizieren. Wichtiger als die Zahlen sind funktionierende Gemeinschaften in den Pfarreien. Da sind wir aus meiner Sicht im Aargau mehrheitlich gut unterwegs.

Aber gespart werden muss wohl zunehmend mehr, was bedeutet, dass Landeskirche und Kirchgemeinden weniger Mittel für kirchliche Dienste bereitstellen können.
Dass Institutionen von Zeit zu Zeit eine Aufgabenüberprüfung vornehmen müssen, gehört dazu. Und das kann zum Abbau von Leistungen führen.

Wie kann man denn mit immer weniger Mitteln noch gute Seelsorge und Diakonie bestreiten?
Wenn die Kirche weniger Mitglieder hat, ist der seelsorgerische Aufwand auch geringer…

Aber gerade im Bereich der Diakonie hat die Kirche ja den Anspruch, für alle Menschen, nicht nur für die Kirchenmitglieder da zu sein.
Ja, das ist so – umso akuter wird sich dann die Legitimationsfrage stellen. Wir sehen aber auch, dass gerade von distanzierten Mitgliedern unser diakonisches Wirken sehr wertgeschätzt wird.

Wie sehr belastet Ihrer Ansicht nach noch immer die Missbrauchsthematik das Image der Kirche?
Nicht nur das Image, sondern die Glaubwürdigkeit der Institution leidet weiterhin. Wenn wir den Blick nach Deutschland richten, wird erkennbar, wie gross und wie vorbehaltslos eine solche Aufarbeitung zu geschehen hat. Die Glaubwürdigkeit leidet aber auch darunter, dass die kirchlichen Strukturen in der heutigen Gesellschaft zunehmend fremd erscheinen. Auch die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau spielt hier – zu Recht – mit.

Sie haben im letzten Jahr gesagt, dass ein Ruck durch die Kirche gehen muss, um eine Trendwende zu schaffen. Sehen Sie bereits Ansätze?
Ich hoffe, dass der heilige Geist, der nun im Bistum Chur gewirkt hat, seinen Einfluss auch in der Bischofskonferenz aufleben lässt. Es braucht diesen Ruck auf nationaler Ebene.

Und hier im Aargau? Wie könnte da ein notwendiger Ruck aussehen?
Als Präsident des Kirchenrates der Römisch-Katholischen Landeskirche engagiere ich mich persönlich für einen Erneuerungsprozess im Bistum. Als Landeskirche leben wir den Willen zur Veränderung auch vor – gerade im Bereich der Gleichberechtigung der Geschlechter oder der Regenbogenpastoral.

Wo bieten die aktuellen Zahlen Anlass für Zuversicht?
Die Zuversicht ist nicht in den Zahlen zu suchen, sondern im Wirken der Kirche. Das stimmt mich zuversichtlich.

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