18.09.2023

Monika Dommann und Marietta Meier sind die Studienleiterinnen des Pilotprojekts «zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch katholischen Kirche in der Schweiz».
«Die Verantwortlichen müssen ihre Hausaufgaben machen»

Von Veronika Jehle und Eva Meienberg

  • Eine erste Hürde ist mit dem Pilotprojekt zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche der Schweiz genommen.
  • Die Historikerinnen wollen den Betroffenen, die keine Stimme haben, eine Stimme geben.
  • Nach der Veröffentlichung des Berichts könne das Thema auch in der Schweiz nicht mehr ignoriert werden.

Gibt es etwas in der Pilotstudie, das Sie persönlich besonders betroffen gemacht hat?

Dommann: Als Historikerinnen gehen wir mit einem bestimmten Blick und einer bestimmten Haltung an unsere Quellen. Wir arbeiten ergebnisoffen. Darum hat Betroffenheit bei der Arbeit keinen Platz.

Meier: Über unsere Gefühle tauschen wir uns aber dennoch aus. Das ist der Vorteil, wenn wir als Team arbeiten. Wir hatten zudem einen Workshop mit Expertinnen und Experten aus der Traumaforschung. Und für das Folgeprojekt haben wir eine Supervision budgetiert.

Was interessiert Sie an diesem Forschungsprojekt?

Dommann: Marietta Meier und ich sind in einem Alter, in dem wir schon viele Projekte gemacht, viel erlebt und viele Erfahrungen gesammelt haben. Dass das vorliegende Projekt schwierig ist, hat uns herausgefordert. Wir sind überzeugt, dass die historische Herangehensweise einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann. Einerseits weiss ich, dass wir diese historische Aufgabe mit unseren Kompetenzen lösen können und andererseits, dass wir Menschen, die betroffen sind, aber keine Stimme haben, eine Stimme geben.

Welche Vorteile bringt die historische Methode?

Prof. Dr. Monika Dommann ist Lehrstuhlinhaberin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. | Foto: Christoph Wider

Dommann: Die historische Methode besteht darin, dass wir eine grosse Menge von Akten durchsehen und diese dann aufeinander beziehen. Das gibt uns Hinweise auf übergeordnete Strukturen. Einige der Lücken, die wir bei den schriftlichen Quellen gefunden haben, können wir durch mündliche schliessen. Die historische Methode ist darum besonders stark, weil sie multiperspektivisch ist. Man kann sich das vorstellen wie verschiedene Objektive verschiedener Kameras, die aus verschiedenen Winkeln auf ein Objekt gerichtet sind. Jede zeigt eine andere Ansicht. Schliesslich berücksichtigen wir auch den Kontext. Wir fragen nach dem Umfeld, nach der Zeit, nach der Kultur und Mentalität, nach den rechtlichen Rahmenbedingungen, in der sich die Ereignisse abgespielt haben. Wie war die Gesellschaft organisiert? Wie waren die Handlungsspielräume der Menschen? Die Berücksichtigung der Quellen, der verschiedenen Perspektiven und des Kontexts machen die historische Methode aus.

Meier: Wichtig sind auch die Grenzen unserer Disziplin. Wir machen zum Beispiel keine psychologische Forschung zu Täterprofilen, oder stellen keine juristischen Fragen.

Wie kommt es zu Spuren der Missbräuche in den Akten der Kirche?

Dommann: Das kanonische Recht sieht vor, dass bei einer Ermittlung, Akten angelegt werden müssen und wann sie vernichtet werden sollen: wenn die Angeklagten verstorben sind oder wenn zehn Jahre nach der Verurteilung vergangen sind. Ein Archiv ist nichts Zufälliges. An den Archiven kann man den Charakter einer Organisation ablesen.

Welchen Charakter lesen sie bei den Archiven der katholischen Kirche ab?

Dommann: Am Anfang haben wir gedacht, dass die Kirche top down von Rom aus funktioniert. Das stimmt in gewisser Hinsicht. Aber gleichzeitig ist sie polyzentrisch. Es gibt verschiedene Zentren und verschiedene Organisationen innerhalb der katholischen Kirche der Schweiz.

Dr. Marietta Meier ist Titularprofessorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. | Foto: Christoph Wider

Ist es Standard, dass Forschende mit den Auftraggeberinnen einen Vertrag schliessen, um uneingeschränkten Zugang zu den Quellen zu bekommen?

Meier: Nein, das ist nicht Standard aber Best Practice.

Dommann: Unser uneingeschränkter Zugang ist für die Kirche ein Glücksfall, weil wir damit unabhängig forschen können und sie eine unabhängige Studie erhalten. Ebenfalls positiv wirkt sich die Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte aus. Etwa durch den von ihr zusammengestellten Beirat. Dieser hat eine grosse Expertise aus verschiedenen Disziplinen eingebracht. Gute Wissenschaft – das gilt für alle Wissenschaften – ist arbeitsteilig. Die Forschenden schauen sich gegenseitig auf die Finger, um bestmögliche Resultate zu erzielen.

Meier: Unsere Studie ist pionierhaft, weil wir die ganze Schweiz mit all ihren Bistümern untersuchen. Und dass wir unseren Fokus neben den Minderjährigen, auch auf erwachsene Betroffene richten.

Gibt es Akteurinnen und Akteure, die Sie anfänglich nicht im Blick hatten?

Dommann: Die Nuntiatur in Bern. Als wir begonnen haben, die Abläufe zu verstehen, die Kommunikationskanäle zwischen den Bistümern und dem Vatikan, da sind wir plötzlich auf die Nuntiatur gestossen. Es wäre für uns sehr wichtig, Einsicht in die Akten dort zu bekommen.

Teilnahme an der Studie

Personen, die im Rahmen des Forschungsprojekts über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche berichten möchten, melden sich bitte unter:
forschung-missbrauch@hist.uzh.ch

Ist die abschlägige Antwort der Nuntiatur eine grosse Irritation?

Dommann: Das gehört zum Forschungsprozess und ist überhaupt nicht unüblich. Wir überlegen in solchen Situationen, wie wichtig uns eine konkrete Anfrage ist, dann verhandeln wir oder versuchen allenfalls sie uns gerichtlich zu erstreiten. Die Akten der Nuntiatur stufen wir als sehr wichtig ein.

Sie empfehlen dennoch, eine soziologisch angelegte, quantitative Untersuchung zu machen. Was versprechen Sie sich davon?

Dommann: Mit den repräsentativen Umfragen der Sozialwissenschaft werden Daten erhoben, die statistisch ausgewertet werden. Daraus können gesamtgesellschaftliche Aussagen gemacht werden. In der französischen Studie etwa wurden Umfragen gemacht zu sexuellem Missbrauch in der Gesamtgesellschaft und im Vergleich dazu in der katholischen Kirche.

Neben den Verhältnissen und den Vergleichen, worauf legen Sie den Fokus?

Dommann: Auf die Strukturen, auf die Mechanismen, sozusagen auf die Anatomie dieses Missbrauchs in der katholischen Kirche. Die Mechanismen beinhalten die Mentalitäten und die gesellschaftliche Ordnung innerhalb der Organisation.

In dem Zusammenhang ist auch vom Milieu die Rede, das Missbrauch begünstigt.

Meier: Das Milieu, das wir erforschen, bildet den Rahmen oder den Kontext, den wir beleuchten müssen, damit wir die Gewalt, die Autoritätsverhältnisse, das Verschweigen und Tabuisieren besser verstehen können.

Dommann: Interessant ist, dass sich auch das katholische Milieu in unserem Untersuchungszeitraum – nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute – verändert hat. Kaum jemand lebt heute noch in einem ausschliesslich katholisch geprägten Referenzrahmen. Menschen haben die Möglichkeit, zu vergleichen und festzustellen, ob Behauptungen eines Milieus wahr sein können. Mit dem Aufbrechen des katholischen Milieus wird die Bereitschaft grösser, über sexuellen Missbrauch zu sprechen, darüber medial zu berichten, worauf sich mehr Betroffene melden werden. An der Medienkonferenz zur Studie war diese Veränderung spürbar: Mit der Studie ist etwas entstanden, dass wir von jetzt an nicht mehr ignorieren können. Damit wurde klar, dass wir jetzt auch in der Schweiz an einem Punkt sind, wo die entsprechenden Verantwortlichen ihre Hausaufgaben machen müssen. Diese Hausaufgaben können wir als Historikerinnen nicht übernehmen.

Ist das sogenannte katholische Milieu mit all seinen Spezifika aussergewöhnlich? Kurios?

Dommann: Es ist ganz wichtig, den Katholizismus nicht darzustellen, als sei dieses Milieu besonders exotisch. Schlimmer noch, ihn zu dämonisieren. Das ist eine Falle, in die wir nicht tappen dürfen. Um erhärtete Aussagen zu treffen, braucht es unbedingt vergleichende Forschung zu anderen religiösen Milieus – und da stehen wir erst am Anfang.

Konnten Sie sich im Rahmen Ihrer Forschung auf das Wort kirchlicher Verantwortungsträger verlassen?

Meier: Aus genau dieser Überlegung heraus haben wir ein einjähriges Pilotprojekt gemacht – weil wir das testen wollten. Wir haben getestet, ob wir unabhängig forschen können. Das hat sich bestätigt.

Welchen Beitrag kann Wissenschaft zur Aufarbeitung leisten?

Meier: Wissenschaftlerinnen schauen mit einem Blick von aussen. Das ist banal, aber zentral. Und dieser Blick von aussen unterscheidet sich von dem einer Betroffenenorganisationen oder der Medien.

Dommann: Unser Beitrag ist die Bestandesaufnahme. Wir sind überzeugt, dass wir für weitere Forschungen in verschiedenen Disziplinen eine gute Basis legen. Wir machen Pionierinnen-Arbeit und wie bei einem Rhizom soll unsere Forschung weiterwachsen.

Welchen Stellenwert hat der Zölibat und das Frauenpriestertum in ihrer Forschung?

Dommann: Das sind offene Forschungsfragen. Wir brauchen dazu belastbare Fakten. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir mit Religionsgemeinschaften vergleichen können, die nicht nur das Männerpriestertum kennen.

Meier: Das Themenfeld katholische Kirche und sexueller Missbrauch muss aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive angeschaut werden. Da spielt die Rolle von Frauen und die vorhandenen Geschlechterbilder eine wesentliche Rolle.

Mit Blick auf die Zukunft: Wie erweitern Sie ihre Forschung?

Meier: Wir ergänzen sie mit der internationalen Perspektive. Und wir wollen unsere Datenbasis erweitern. Wir hoffen, dass weitere Meldungen bei uns eingehen. Das müssen nicht Betroffene selbst sein, das kann eine Schwester oder eine Freundin, der Vater oder ein Gemeindemitglied sein. Wir möchten das Mitwissertum besser verstehen, das zum Verschweigen und Vertuschen gehört.

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