24.04.2023

Vor 20 Jahren ist die Theopoetin Dorothee Sölle gestorben
Dorothee Sölle – eine Freundin Gottes

Von Dolores Zoé Bertschinger*

  • Am 27. April 2003 ist Dorothee Sölle gestorben. Sie war Theologin, Dichterin, Mystikerin und Aktivistin.
  • Für sie konnte es keine Theologie «jenseits von Auschwitz» geben und keine, die nicht allgemein verständlich ist.
  • Dolores Zoé Bertschinger, Religionswissenschaftlerin und Buchautorin zur feministischen Theologie der Schweiz, zeichnet den Lebensweg der Jahrhunderttheologin nach.

Politische Theologie und Ökumene, Dichtung und Poesie, Frauen- und Friedensbewegung, Ökologie und Anti-Atomkraft-Bewegung – wenn man sich Dorothee Sölle nähern will, begegnet man grossen Worten. Sie sei eine Grenzgängerin gewesen, eine Mystikerin, eine Prophetin gar. Im Gegensatz zu diesen grossen Worten wirkt Dorothee Sölle auf Fotos eher klein, mit einem sehnigen Körper, zart und zäh zugleich. Sicher ist: Sie hat ein erfahrungsreiches Leben geführt zwischen Katheder, Kanzel, Küche und Kundgebungen.

Aufgewachsen in einer «post-christlichen» Familie

Dorothee Nipperdey wurde 1929 als Tochter von Hildegard und Hans Carl Nipperdey in das gehobene Bürgertum Kölns hineingeboren. Sie hatte fünf Geschwister, ihre Mutter war Erzieherin, ihr Vater Professor für Arbeitsrecht. Sie sei in einer «post-christlichen» Familie aufgewachsen, so Sölle selbst, das Christentum sei langsam in ihr gewachsen. Ihre Jugendjahre waren vom Nationalsozialismus geprägt. Sie hing der Nazi-Ideologie zwar nicht an, hinterfragte sie aber auch nicht. In ihrer Autobiographie hielt sie später entsetzt fest, dass sie in ihrem jugendlichen Tagebuch nur Alltägliches, Banales notiert habe, aber nichts von den Erschütterungen, den Zwängen jener Jahre. Das Entsetzen über das eigene Unvermögen, die Grausamkeit des Nationalsozialismus zu erkennen, sollte Sölles «Theologie nach Auschwitz» nachhaltig prägen.

Kinder und Karriere

Ermutigt von ihrer ehemaligen Religionslehrerin Marie Veit, studierte Sölle ab 1951 in Göttingen Germanistik und Theologie. 1954 heiratete sie den Künstler Dietrich Sölle, die Ehe sollte zehn Jahre dauern. Zwischen 1954 und 1961 gebar Sölle die Kinder Martin, Michaela und Caroline und arbeitete hauptsächlich als Lehrerin. Ihre akademische Karriere vernachlässigte sie nicht: 1959 promovierte sie in Literaturwissenschaft und war fortan an verschiedenen Universitäten als Lehrbeauftragte tätigt. Anfang der 1960er-Jahre verfasste sie erste journalistische Beiträge und ihre öffentliche Karriere nahm langsam Fahrt auf. In dieser Zeit entstanden für Sölle bedeutsame Freundschaften wie jene mit der feministischen Theologin Luise Schottroff oder dem Schriftsteller Heinrich Böll.

Dorothee Sölle an einer Veranstaltung im Romero Haus in Luzern | Foto: Marcel Kaufmann/Commundo

Politische Nachtgebete

Grossen Anteil nahm Sölle am Vietnamkrieg. Erschüttert von der grausamen Tet-Offensive der US-Truppen in Vietnam 1968 feierte sie zusammen mit dem Ökumenischen Arbeitskreis Köln, zu dem auch Marie Veit, Heinrich Böll sowie der Benediktinerpater Fulbert Steffensky gehörten, einen politischen Gottesdienst. Da die Feier auf 23 Uhr angesetzt war, wurde sie Politisches Nachtgebet genannt. Es war ein einschneidendes Erlebnis für Sölle. Da Kardinal Frings eine Weiterführung der Nachtgebete in den katholischen Kirchen Kölns untersagte, wichen die Nachtgebetler auf die evangelische Antoniterkirche aus. Beim ersten politischen Nachtgebet dort kamen mehr als tausend Menschen zusammen! Fortan fanden sie monatlich statt und thematisierten etwa auch die autoritären Strukturen in der Kirche, die Diskriminierung der Frauen, Entwicklungshilfe, Strafvollzug oder die DDR. Viele Mitglieder der Kirche empfanden diese Verknüpfung von Christentum und Politik als skandalös, aber der monatliche Zustrom an Teilnehmenden gab den Nachtgebetlern recht.

Kein Lehrstuhl in Deutschland

1969 heiratete Sölle Fulbert Steffensky, 1970 brachte sie ihre gemeinsame Tochter zur Welt. Kurz darauf habilitierte Sölle sich mit einer Arbeit über das Verhältnis von Theologie und Dichtung. Als Mutter von vier Kindern ging Sölle also konsequent den akademischen Weg. Trotzdem wurde ihr ein Lehrstuhl an einer deutschen Universität ein Leben lang verwehrt, erst 1994 erhielt sie die Ehrenprofessur von der Universität Hamburg. Zwischen 1975 und 1987 verbrachte sie jeweils sechs Monate pro Jahr am Union Theological Seminary in New York City, wo sie eine Professur für Systematische Theologie innehatte. Ihre Politische Theologie stand in Verbindung mit der Befreiungstheologie in Nord- und Lateinamerika, ebenso wie mit der feministischen Theologie und der Ökotheologie.

Theologie und Politik

Trotz ihrer Bekanntheit in der akademischen Welt gab sich Sölle jedoch nie damit zufrieden, nur akademische Theologin zu sein. In ihrer «widerständischen Liebe zur Schöpfung» war sie eine lautstarke und sichtbare Aktivistin gegen Aufrüstung, Atomenergie und Krieg und wurde wegen Teilnahme an Protestkundgebungen auch wegen versuchter Nötigung verurteilt. Aber nicht nur wegen ihres Aktivismus war Sölles Theologie politisch, sondern auch, weil sie sie direkt mit der Erfahrung des Nationalsozialismus und den Morden in Auschwitz verband.

«Wo war Gott in Ausschwitz?»

Für sie konnte es keine Theologie «jenseits von Ausschwitz» geben. Sie fragte sich: «Wo war Gott in Auschwitz?» Wenn er allmächtig war, warum hatte er die Deportationszüge nicht angehalten? Sölle fand für sich nach langer Zeit eine Antwort auf diese Frage: Gott war während Ausschwitz sehr, sehr klein, er hatte fast keine Freundinnen und Freunde in Deutschland. Denn, so schlussfolgerte Sölle im Anschluss an die Mystikerin Theresa von Ávila: Damit Gott auf Erden walten konnte, brauchte er die Menschen als Freunde, er war angewiesen auf deren Hände, um als gerechter Gott in der Welt zu wirken. Mit diesen Überlegungen rüttelte Sölle am damaligen theologischen Selbstverständnis, die Menschen seien aufgehoben und getröstet bei einem Gott, der planvoll die Welt regiert und über Leben und Tod entscheidet. Sölle ging es darum, nicht Gott verantwortlich zu machen, wo Menschen die Handelnden und Täter waren.

Gott in den Menschen

Ein Leben lang dachte Sölle über Gott «in uns» und nicht einen Gott «über uns» nach. Sie fand ihn in der Liebe und in den gelungenen Beziehungen zwischen den Menschen. Diese Beziehungen und das Zusammensein mit Menschen pflegte sie neben ihrem politischen Handeln auch in ihrer Intellektualität: das Gespräch war ihre bevorzugte Denkform. Sie wollte eine Theologie in allgemein verständlicher Sprache sprechen. Ihre Texte handelten deshalb stets von den aktuellen Lebensbedingungen und -fragen der Menschen, nicht von theologischen Lehrmeinungen. Mit enormer Wortmacht prangerte sie Armut, Spekulation und Konsumismus an, sie fand aber auch zarte Worte für Zweifel, Hadern und Widersprüche. Das Gedicht war die ihre bevorzugte Form, Schmerz und Erschütterung, aber auch Wünsche und Hoffnungen kundzutun. Hier zeigt sich die Mystikerin und Poetin Dorothee Sölle, für die beten und dichten synonym waren. Bei aller Wut und Verzweiflung beschreiben Weggefährtinnen Sölle als eine, die in den Gedichten, im Spiel, in den Liedern und in den Gottesdiensten zuhause war.

Sölle starb im April 2003 im Alter von 73 Jahren an einem Herzinfarkt. Ihr Vermächtnis ist, dass sie sich erlaubte, nicht nur die Eine sondern Viele zu sein: für Fromme war sie die Politische, für Politische die Fromme, für Bischöfe die Kirchenstörerin und für die Entkirchlichten die Kirchenliebende. Oder, wie es ihre Freundin Li Hengartner kürzlich an einer Gedenkveranstaltung sagte: Dorothee Sölle war eine Frau, die mit sich selbst im Widerspruch lebte – und sie war eine Frau, die das Staunen nie verlernte.

Dolores Zoé Bertschinger ist Religionswissenschaftlerin in München und Zürich. Sie arbeitet zu Religions- und Frauengeschichte sowie zu Buddhismus und Bildwissenschaft. Zu Feministischer Theologie in der Schweiz ist von ihr und Evelyne Zinsstag das Buch «Aufbruch ist eines, und Weitergehen ist etwas anderes» (2020) im eFeF-Verlag erschienen.


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