05.07.2018

Ein Kloster, drei Kantone

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Das Horizonte-Team hat sich ganz in den Westen seines Gebietes begeben für die Sommerserie «Im wilden Westen»
  • Begeben Sie sich mit Horizonte auf Entdeckungsreise zu den Glaubens- und Kulturschätzen an den Rändern des Aargaus.
  • Erste Folge: Das Kloster St. Urban im Dreikantonseck Luzern-Bern-Aargau

 

Flimmersonne über gebüscheltem Heu, Waldschatten am Dorfrand. Saftig-sattes Grün statt Prärie, lauer Sommerwind statt rauer Wildwestluft. Taucht da wenigstens ein Cowboy auf, dort aus dem Schatten der Linde?

Im wilden Westen

An diesem Sommerabend geht die Fahrt ins Kloster St. Urban, wo sich der «wilde Westen» von seiner sanften Seite zeigt. Gebettet in die Hügel, scheint die über 800-jährige Anlage in sich selber zu ruhen. Im Park empfangen alte Bäume und moderne Kunst die Besucher. Und aus dem Schatten der Linde tritt kein Cowboy, sondern ein geschichtskundiger Erzähler. Bernhard Minder lernte das Kloster St. Urban einst als Arbeitsort kennen. Als Psychiatriepfleger war er in der Klinik tätig, die sich heute in der ehemaligen Klosteranlage befindet. Bald entdeckte der historisch Interessierte den Reiz des ehemaligen Zisterzienserklosters. Seit zwanzig Jahren leitet er Klosterführungen.

Bernhard Minders Arm deutet nach links: «Der Wald dort gehört zum Kanton Aargau.» Dann wandert seine Hand im Uhrzeigersinn: «Die Bäume dort drüben stehen im Kanton Bern.» Bernhard Minder selber steht auf Luzerner Boden, in der Gemeinde Pfaffnau. Vor ihm erhebt sich die monumentale Fassade der Klosterkirche.

Seit je ein Grenzgebiet

In St. Urban treffen sich die Kantone Aargau, Bern und Luzern. Die Gegend, erzählt Bernhard Minder, sei schon immer Grenzgebiet gewesen. Aus keltischer Zeit habe man an den beiden Ufern des Flusses je unterschiedliche Grabbeigaben gefunden. Auch Ortsnamen wie Murgenthal festigen diese Annahme, das keltische «murg» bedeutet «Grenze». Seit je treffen hier unterschiedliche Gepflogenheiten und Mentalitäten aufeinander. Bernhard Minder nennt Beispiele: Im Emmental erbt der jüngste Sohn den Hof, im Entlebuch der älteste. Die Berner jassen mit französischen Karten, die Luzerner mit deutschen. Ja, die Grenze zwischen der Verbreitung der beiden Jasskartensorten verlaufe gar von St. Urban über den Napf und den Wachthubel bis zum Brünig und weiter hinauf zum Furkapass, erklärt die Webseite grenzpfad.ch. Nach der Reformation traf hier auch die reformierte bernische Seite – auch der Aargau war damals noch bergisch – auf das katholische Luzern.

Mönche prägten die Landschaft

In dieses Gebiet kamen im Jahr 1194 zwölf Zisterziensermönche mit ihrem Abt, um ein Kloster zu gründen. Sie versuchten es zuerst etwa sechs Kilometer entfernt auf der Anhöhe «Kleinrot», was «kleine Rodung» bedeutet. Doch ein Berg war ungeeignet für die Wasserwirtschaft, welche die Mönche betreiben wollten. Deshalb zogen sie an den heutigen Standort, wo damals zwei Höfe standen. Neben dem Bau von Kirche und Konvent kultivierten sie das umliegende Land: «Mit der Wasserwirtschaft, das heisst mit dem Bau eines verzweigten Systems von Kanälen, prägten die Zisterzienser die heutige, parkähnliche Landschaft», erläutert Bernhard Minder. Zeugen dieser monastischen Ingenieurskunst sind bis heute die Wässermatten im Oberaargau (nordöstlichster Teil des Kantons Bern), Reste einer einst verbreiteten Kulturform der genossenschaftlichen Bewässerung und Düngung. Die Wässermatten gehen auf die Mönche des Klosters St. Urban zurück und sind kulturhistorisches Erbe.

Malachias Glutz – «ein sehr barocker Mensch»

Die heute sichtbare Gestalt des Klosters wurde vor allem von einem Mann geprägt. Malachias Glutz stand dem Kloster von 1706 bis 1726 als Abt vor. «Ein sehr barocker Mensch», sagt Bernhard Minder mit einem vielsagenden Schmunzeln. Abt Malachias, der aus einem Solothurner Adelsgeschlecht stammte, liess die mittelalterliche, gotische Kirche abreissen und gab den Neubau in Auftrag. Kurz darauf liess er auch die Konventgebäude neu bauen. Damit schuf er eine der bedeutendsten barocken Klosteranlagen der Schweiz, für welche die Architekturhistoriker gerne ein paar Superlative auspacken. Von einem «Innenraum von höchster Reife» mit «unvergleichlicher Lichtfülle» ist in der Fachliteratur die Rede.

Zurückhaltung abgelegt

Die Fassade macht neugierig. Obwohl die Zisterzienser als Reformorden zurückkehren wollten zu den Wurzeln, der benediktinischen Regel, und dem Reichtum abschworen, erstellte Malachias Glutz eine imposante Doppelturmfassade. Bei ihrer Gestaltung  spielte die Lage im Grenzgebiet zwischen den Konfessionen eine wichtige Rolle. Angesichts des reformierten Nachbars Bern gab Malachias Glutz die zisterziensische Zurückhaltung auf. Die Regel, dass keine Türme auf dem Boden stehen dürfen, umging Malachias mit der Rechtfertigung, der vordere Teil der Kirche sei für die Laien reserviert, für diese seien auch die Türme. «Eine grosszügige Regelauslegung», kommentiert Bernhard Minder. Doch im Innern erwartet die Besucher ein Kirchenraum, so luftig, leicht und hell, wie sie noch selten eine Kirche gesehen haben. Bernhard Minder konstatiert: «Etwas Vergleichbares muss man weit suchen. Das ist die Synthese aus barocker Fülle und zisterziensischer Bescheidenheit».

Fokus liegt auf dem Göttlichen

Steht man unter der Kirchentüre, ist kein Fenster zu entdecken. Im Mittelpunkt steht allein das Licht. Die Wandpfeiler sind so gesetzt, dass der Bau nach vorne hin enger zu werden scheint. Der Blick wird zum Hochaltar gelenkt. «Als wollte die Kirche dem Betrachter mitteilen ‚Denk daran, der Fokus im Leben liegt auf dem Göttlichen’», interpretiert Bernhard Minder. Ein sehens- und vor allem hörenswertes Prunkstück ist die Orgel von Joseph Bossard, eine der grössten, weitgehend erhaltenen Barockorgeln in Europa.

Nichts ohne Bedeutung

Dank Bernhard Minders Wissen bekommen all die Symbole, Figuren und Proportionen in der Klosterkirche eine Bedeutung. Nichts scheint absichtslos, jeder Gitterstab, jedes Pfeilerkapitell lässt sich mit der Bibel, der Klostergeschichte oder den grossen menschlichen Fragen nach Leben und Tod, Sinn und Schicksal verbinden. Die Kirche bewege auch Angehörige anderer Weltreligionen, weiss Bernhard Minder aus seiner langen Erfahrung als Klosterführer.

Hier atmet die Erde aus

Ein anderes Phänomen, das unabhängig von der Religionszugehörigkeit Wirkung zeigt, sind die Kraftpunkte. Es gebe mehrere solche Stellen in der Kirche, wo die Natur «ausatme», wie Bernhard Minder formuliert. Beim Eingang verlaufe eine Wasserader, die reinigende Wirkung habe. Auf Höhe der zehnten Bankreihe von hinten gezählt, sei durch Auspendeln ein Meteor unter dem Kirchenboden geortet worden. Und hinter dem Chorgitter, direkt unter der Uhr mit dem blauen Zifferblatt, befinde sich der stärkste Kraftort. Hier, im barocken Chorgestühl, versammelten sich einst die Mönche sieben Mal täglich zum Gebet. Gut möglich, dass die spirituelle Kraft des Gebetes über die Jahrhunderte einen Ort der Kraft geschaffen hat. Bernhard Minder verrät, dass er jeweils in der Halbzeit seiner Führungen unter die Uhr stehe und Kraft tanke für die zweite Hälfte.

Verbindung zum Kloster Wettingen

Das in sechsjähriger Schnitzarbeit zwischen 1701 und 1707 geschaffene Chorgestühl aus Nussbaum- und Eichenholz erinnert spontan an dasjenige im Kloster Wettingen. Und tatsächlich fällt Bernhard Minder eine Verbindung zum Zisterzienserkloster auf der Limmathalbinsel ein. Das Eichenkernholz des Wettinger Chorgestühls stammt aus den Wäldern des Klosters St. Urban.

Irrfahrt mit Happy-End

Wie ein Krimi hört sich die Geschichte des Chorgestühls an. Nachdem der Kanton Luzern im Jahr 1848 beschlossen hatte, das Zisterzienserkloster aufzuheben, verscherbelte er das Inventar, um die Schulden aus dem Sonderbundkrieg zu bezahlen. Der Käufer, der St. Galler Bankier James Meyer, liess das Chorgestühl abbauen und stellte einen Teil davon in Basel zum Verkauf aus. Der Ire Stephen Ram erwarb es. Zuhause fand er jedoch keinen geeigneten Platz dafür und verkaufte es weiter. So gelangte das barocke Kunstwerk zum schottischen Earl of Kinoull. Doch auch in dessen Schloss hatte nur ein Teil des grossen Gestühls Platz. 1890 erfuhr Heinrich Angst, britischer Generalkonsul in der Schweiz und erster Direktor des Schweizer Landesmuseums, im Gespräch mit Engländern von einem geschnitzten Chorgestühl aus der Schweiz auf den Britischen Inseln. Er machte es ausfindig und nahm Kaufverhandlungen auf, die aber am hohen Preis scheiterten. Jahre später konnte endlich die Gottfried-Keller-Stiftung das Chorgestühl für 50’000 Franken zurückkaufen. Im Oktober 1911 wurde es in der Klosterkirche wieder eingeweiht.

Barocke Schmuckstücke und Raum für Neues

Vor dem Hochaltar der Kirche führt eine Türe zum Konventgebäude. Auf dem kürzesten Weg hinaus aus der Klosteranlage passiert Bernhard Minder wie zufällig weitere Schmuckstücke der Barockkunst. Die Sakristei mit einem wertvollen Gewand von Abt Malachias, die Bibliothek mit den geschnitzten Eichensäulen, den grössten barocken Festsaal der Schweiz und das Treppenhaus, welches durch die Anordnung der Treppen einen ganz speziellen Raumeindruck vermittelt. Dann geht’s hinaus in den Park.

Auch dort steht Kunst. Die Skulpturen sind Teil des Kunstzentrums art-st-urban, das auf dem Klostergelände beheimatet ist. Es hat sich zu einer Plattform für Kunstvermittlung und –förderung entwickelt. Das Kloster St. Urban verwaltet nicht nur sein jahrhundertealtes spirituelles und kulturelles Erbe, sondern bietet Menschen den Freiraum, Neues zu schaffen.

«Dieser Ort gibt mir viel»

St. Urban ist ein Ort, prallvoll mit Geschichte und Geschichten. Wer sich aufmacht, ihn zu entdecken, wird nicht enttäuscht. Da passt das Schlusswort von Bernhard Minder: «Mir ist es ein Anliegen, das weiterzugeben, was ich hier bekommen habe. Dieser Ort gibt mir viel.»

 

 

 

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