04.03.2024

Der Krieg in der Ukraine verändert das Leben der Menschen vollständig.
Ein Leben in drei Zimmern

Von Eva Meienberg

  • Der Krieg in der Ukraine diktiert den Alltag von Olena, Mutter von sechs Kindern.​
  • Livia Leykauf von Caritas Schweiz hat die Familie in Zaporizhzhia besucht.

«Es war die letzte Chance, zu entkommen», erinnert sich Olena. In einem Konvoi aus den asowschen Stahlwerken hatten sie Platz für die ganze Familie gefunden, nachdem die russische Armee im Februar 2022 ihre Heimatstadt Tokmak im Südosten der Ukraine besetzt hatte. Ihr bisheriges Leben in ihrem kleinen Häuschen war über Nacht zur Hölle geworden. Dauerbeschuss von beiden Seiten. Hals über Kopf musste die Familie alles verlassen, was ihnen lieb und vertraut war. Zu acht flohen sie durch die Ukraine nach Polen. Aber dort fehlte ihnen ihre Heimat, ihr Land, ihre Sprache, ihr Leben.

Eine Sorge weniger

So kehrten sie nach einem Jahr, mitten im Krieg, zurück in die Ukraine. In ihr Haus, das direkt in der besetzten Zone im Kampfgebiet liegt, konnten sie nicht. Kurzfristig kamen sie bei einer befreundeten Familie in Zaporizhzhia unter, gut 100 Kilometer nördlich ihrer Heimatstadt. Doch wer kann schon eine achtköpfige Familie für längere Zeit aufnehmen? Also packten sie wieder alles zusammen und suchten nach einer Bleibe. Olena hörte von den Angeboten der Caritas und liess sich registrieren. «Das Beste, was uns in dieser Situation passieren konnte», lächelt die blonde Frau zurückhaltend. Dank der Caritas haben sie, ihr Mann und die sechs Kinder eine Wohnung gefunden, konnten diese schlicht, aber gemütlich einrichten und erhalten einen Mietzuschuss. Das neue Zuhause ist klein, es gibt nicht einmal Platz für einen Tisch, an dem alle gemeinsam essen können. Und doch ist Olena unendlich dankbar für die Hilfe. «Es gibt mir Zuversicht und bedeutet eine Sorge weniger.»


Hilfe in der Ukraine

Caritas bietet seit dem ersten Tag des Krieges verschiedene Hilfeleistungen an. Stand am Anfang eher die Nothilfe mit Schlafstellen, Suppenküchen und Beratungen im Zentrum, sind es heute Bargeldhilfe für Menschen, die unlängst geflohen sind, Mietzuschüsse, Reparaturen von Wohnungen, die bei Angriffen beschädigt wurden, psychologische Beratungen, aber auch Beratung und Zuschüsse für Geschäftsideen (zum Beispiel ein Näh-Atelier oder kleinere Landwirtschaftsmaschinen) damit die Familien, die nicht mehr in ihre angestammten Heimatdörfer zurückkehren können, ein neues Leben beginnen können. (ley)

Schule mit Luftschutzkeller

Sorgen bereitet ihr jedoch die Ausbildung ihrer Kinder. Die meisten Schulen im Osten der Ukraine haben geschlossen, weil sie über keine Schutzbunker verfügen, die aufgesucht werden müssen, sobald die Sirenen vor Raketenangriffen warnen. «Auf der anderen Seite der Stadt», weiss Olena, «gibt es eine Schule mit Luftschutzkeller.» Aber der Weg dahin mit der Strassenbahn ist lang und ungeschützt. «Als Mutter hat man da immer Angst.» So findet der Unterricht und fast das ganze Familienleben in der kleinen 3-Zimmer-Wohnung statt. Als wir zu Besuch sind, versucht die Achtjährige Katya* konzentriert und kerzengerade aufgerichtet der Lehrperson per Computer zu folgen. Die anderen Geschwister machen Hausaufgaben, schauen fern, streiten sich, kuscheln mit der Mutter oder chatten mit den früheren Freundinnen aus Tokmak, die auch irgendwohin in der Welt geflohen sind. «Den Kindern fehlt das gewohnte Umfeld, sie können die Wohnung kaum verlassen, ich kann ihnen nicht so viel Zeit widmen, wie ich das gerne würde.»

Seit dem Ausbruch des Krieges findet fast der ganze Unterricht online statt. | Foto: Valentyn Kliushnyk

Bedrückende Einsamkeit

Die Einsamkeit der jungen intern Vertriebenen ist ein riesiges Problem in der Ukraine. Das hört man überall, von Eltern, Psychologinnen oder Sozialarbeitern. Umso wichtiger sind Angebote wie die der Caritas, wo die Kinder und Jugendlichen einen geschützten Rahmen haben, um sich auszutauschen. Dort können sie spielerisch die schlimmen Erlebnisse aufarbeiten und erhalten professionelle Begleitung. Auch Olena ist oft einsam. Ihr Mann Maksym* ist selten daheim. Nicht, weil er an der Front Kriegsdienst leisten muss, davon ist er als Vater von sechs Kindern befreit. Er hat eine Anstellung als Schweisser gefunden und muss wochenlang in anderen Städten arbeiten. Dann liegt alles auf Olenas Schultern. In ruhigen Momenten kommen ihr die Tränen. Traurig schaut sie auf die Koffer im Wohnungseingang. Sie sind Sinnbild für alles, was sie durch den Krieg verloren hat und für die Ungewissheit, die noch vor ihr und ihren Kindern liegt. Dann hebt sie resolut den Kopf. «Das sind die Umstände. Ich kann es nicht ändern.» Sie will sich nicht vom Krieg brechen lassen.

*Alle Namen sind zum Schutz der Personen geändert

Text: Livia Leykauf/Caritas

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