04.04.2024

143 – Die Dargebotene Hand
Eine Nummer für alle Fälle

Von Eva Meienberg

  • Hinter der Dargebotenen Hand verbergen sich viele Hände von freiwilligen ​Mitarbeitenden.
  • Zum Beispiel die von Rosalie und ihrer Mentorin Cornelia.
  • Sie nehmen das Telefon ab und hören zu, wenn Menschen​ es am meisten brauchen.

Cornelia ist nur ihr Deckname und die Adresse, an der unser Gespräch stattfindet, ist auch geheim. «Anonymität ist unser Bonus», sagt die Telefonseelsorgerin, «sie schützt die Anrufenden und uns freiwillige Mitarbeitende von der Dargebotenen Hand.» Cornelia nimmt seit 15 Jahren Anrufe auf der Linie 143 entgegen. Rosalie, die eigentlich auch anders heisst, hat im vergangenen September die Ausbildung als Beraterin für die Dargebotene Hand begonnen. «Wenn ich meinen Dienst antrete, zünde ich auf meinem Pult eine Kerze an. Nehme ich das Telefon ab, gibt es für mich niemanden, ausser der Person am anderen Ende der Leitung», sagt Cornelia. Es gibt viele Gründe, warum Menschen sich an die Dargebotene Hand wenden: Probleme bei der Arbeit, Existenzängste, Beziehungsprobleme, Einsamkeit. Manchmal wollen die Anrufenden etwas loswerden, das sie niemandem erzählen können, manchmal wollen sie ihre Schuldgefühle loswerden, manchmal brauchen sie eine Adresse einer Anlaufstelle. Nicht selten gehe es im Gespräch um eine Auslegeordnung, sagt Cornelia. Wie ist die Situation? Welche Optionen gibt es?

Unter der Nummer 143 finden Menschen in Not Gehör. | Illustration: Nathalie Koller/ bureauplus.ch

Empathie, keine Ratschläge

Cornelia hat nicht den Anspruch, dass sie die Situation der Anrufenden verbessern kann, aber sie verändern, einen Stein ins Rollen bringen, das möchte sie unbedingt. Die Dargebotene Hand sei keine Helpline und sie erteile keine Ratschläge. Als Telefonseel­sorgerin hört Cornelia empathisch zu und versucht zu spüren, was die Menschen am anderen Ende der Leitung brauchen. Dazu macht sie sich Notizen, um den Überblick zu behalten. Rosalie vergleicht die Situation mit folgendem Bild: «Wir sind wie ein Eich­hörnchen auf dem Baum, das von oben das Geschehen aus der Distanz beobachten kann.» Diesen Vergleich hat sie in der Ausbildung gelernt. Dort lerne sie auch, die Zügel während eines Gesprächs in den Händen zu halten. Das gelinge ihr, indem sie die richtigen Fragen stelle. Manchmal brauche es dazu offene Fragen, manchmal geschlossene, die mit ja und nein beantwortet werden können. Das hat Rosalie zuerst in Rollenspielen geübt, dann hat sie den Gesprächen ihrer Mentorin Cornelia zugehört. Schon bald hat sie selbst das Telefon abgenommen, während Cornelia ihr unterstützend zur Seite stand.

Raus aus der Gefahrenzone

«Wir beraten wertfrei und auf Augenhöhe», sagt Cornelia. Die Voraussetzung dafür sei, sich selbst gut zu kennen, vor allem die Themen, die einen aus der Bahn werfen könnten. Dennoch gib es belastende Situationen für die Mitarbeitenden der Dargebotenen Hand. Etwa wenn die Person am anderen Ende der Leitung sich das Leben nehmen will und der Anruf noch ein letzter Abschied sein soll. «Schön, dass Sie die 143 gewählt haben. Lassen Sie uns noch einen Moment miteinander sprechen. Wo stehen Sie gerade? Setzen Sie sich doch kurz hin.» Zuerst müsse die Person aus der Gefahrenzone raus. Einen Meter weg vom Perron, einen Schritt zurück von der Brüstung. Wenn Menschen mit Suizidabsicht die Nummer 143 wählen, sei das ein Hoffnungsschimmer, eine kleine Ressource, die vielleicht reiche zum Überleben. Nach solchen Gesprächen braucht auch Cornelia eine Pause. Dann öffnet sie das Fenster, das sonst aus Diskretionsgründen geschlossen sein muss, und atmet durch.

Im Schnitt läutet das Telefon während der fünfstündigen Tagesschicht fünf bis sechs Mal. In der Nachtschicht, die neun Stunden dauert, gibt es zwischen vier und 17 Anrufe. Manchmal seien die Anrufenden ausfällig und unfreundlich. Wie die Anrufenden haben auch die Mitarbeitenden der Dargebotenen Hand die Möglichkeit, ein Gespräch zu beenden. Für solche Fälle hat es Bälle zum Kneten gegen den Ärger und Schokolade und Chips im Küchenschrank für einen kleinen Frust-Imbiss. Im Notfall sind die Psychologin und die Geschäftsstellenleiterin der Regionalstelle erreichbar.

Reichlich entschädigt

Im März ist Rosalies Ausbildungszeit vorüber. Vorher übernimmt sie noch eine Schicht mit ihrer Mentorin Cornelia und mit der Psychologin, die die Ausbildung leitet. Wenn Rosalie sich bereit fühlt, dann wird sie in das 40-köpfige Team aufgenommen. Mit ihren 68 Jahren ist sie die älteste Auszubildende. Im Kanton Aargau kann sie dann noch zehn Jahre für die Dargebotene Hand das Telefon abnehmen, dann ist das Höchstalter erreicht. Sie weiss schon jetzt, dass sie gerne im Team mitarbeiten möchte, weil sie bereits erfahren hat, was sie oft über die Einsätze gehört hat: «Für die Zeit, die du den Menschen am anderen Ende der Leitung schenkst, wirst du reichlich entschädigt mit dem Gefühl, etwas sehr Sinnvolles getan zu haben.»

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