19.06.2023

Flüchtlingstage 2023 im Aargau
Geflüchtete nicht ins Abseits drängen

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Vergangenes Wochenende, 17. / 18. Juni, fanden die Flüchtlingstage statt.
  • Ein Gespräch zwischen Geflüchteten und Aargauer Grossrätinnen und Grossräten in Baden zeigte, dass die geltenden Gesetze den Einzelschicksalen oft nicht gerecht werden.
  • Spürbar war der Wille der anwesenden Grossratsmitglieder, die Schwierigkeiten der Geflüchteten ernst zu nehmen.

Der Moderator des Gesprächs zwischen Politikern und Geflüchteten auf dem Bahnhofplatz in Baden, Michael Tomebosa, ist aus Eritrea geflüchtet und lebt seit 2015 in der Schweiz. Er fordert die auf der Bühne sitzenden Grossrätinnen Edith Saner (Die Mitte), Lea Schmidmeister (SP) und den Grossrat Robert Müller (SVP) mit der Frage heraus: «Herr Müller, Frau Saner, Frau Schmidmeister, wie kämen Sie mit 9.- Franken pro Tag über die Runden?». Neun Franken pro Tag beträgt die Asylsozialhilfe, welche Personen im laufenden Asylverfahren sowie vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer erhalten.

Mit neun Franken pro Tag über die Runden kommen

Alle drei Politiker geben zu, dass neun Franken pro Tag hinten und vorne nicht ausreichen, um den Alltag zu bestreiten, geschweige denn, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Höhe der Asylsozialhilfe sei ein politisches Dauerthema, sagen sie: «Diese Frage wird immer wieder diskutiert, jedoch ist der tiefe Betrag im Moment politisch so gewollt», erklärt Edith Saner.

Kein Teuerungsausgleich bei der Asylsozialhilfe

Patrizia Bertschi, ehemalige Präsidentin des Vereins Netzwerk Asyl, ehemalige SP-Grossrätin und seit Jahrzehnten im Flüchtlingsbereich tätig, steht dem Moderator zur Seite. Sie merkt an: «Die Kantone bestimmen die Höhe der Asylsozialhilfe. Und der Aargau liegt am Schluss der Liste.» Lea Schmidmeister bringt den Teuerungsausgleich ins Spiel, den der Bundesrat für die Sozialhilfe gewährt habe, den es jedoch für die Asylsozialhilfe bisher nicht gebe: «Bei neun Franken am Tag fällt es ins Gewicht, ob die Teigwaren plötzlich einen Franken mehr kosten als bisher», erklärte sie.

«Damit bin ich schon sehr weit gegangen»

Angesichts dieses einleuchtenden Beispiels sagte SVP-Grossrat Robert Müller, er würde im Grossen Rat den Ausgleich der Teuerung bei der Asylsozialhilfe unterstützen. Auf die Frage von Schmidmeister, ob er den entsprechenden Antrag in der Kommission gleich selbst stellen würde, befand er: «Das würde dir besser anstehen. Ich selbst bin mit der Zusage der Unterstützung schon sehr weit gegangen.» Das Publikum schmunzelte und applaudierte. Die Anwesenden schätzten den guten Willen der politisch Verantwortlichen, die Schwierigkeiten von Geflüchteten ernst zu nehmen.

Solidarisches Verteilprinzip

Eine weitere Frage betraf die freie Wohnungswahl von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen. Vorläufig Aufgenommene dürfen ihren Wohnsitz nicht selbst wählen, sondern werden den Gemeinden zugeteilt. Robert Müller und Edith Saner unterstützen die freie Wohnsitzwahl nicht. Beide betonten die Solidarität zwischen den Gemeinden und die Notwendigkeit, die geflüchteten Menschen gut zu verteilen. «Es gibt eine solidarische Verteilung, die grundsätzlich funktioniert. Wir wollen keine Hotspots», sagte Edith Saner, die während ihrer Zeit als Gemeinderätin und Frau Gemeindeamman in Birmenstorf regelmässig Kontakt mit Geflüchteten hatte. Robert Müller, ebenfalls ehemaliger Gemeindeamman in Freienwil, verwies zusätzlich auf eine sinnvolle Durchmischung an den Schulen, die seiner Meinung nach bei freier Wohnsitzwahl gefährdet wäre.

SP-Grossrätin Lea Schmidmeister hat als Mitarbeiterin der Flüchtlingsberatung der Caritas täglich Kontakt mit Geflüchteten. Sie sprach sich für die freie Wohnsitzwahl aus und bemängelte: «Das Problem ist, dass es keine Ausnahmen gibt.» Dass vorläufig Aufgenommene ihren Wohnsitz nicht frei wählen dürfen, kann zu schwierigen Situationen führen. Zum Beispiel, wenn jemand deswegen nicht in die Nähe seines Arbeitsortes ziehen kann. Oder wenn eine Familie mit schulpflichtigen Kindern die Wohngemeinde wechseln muss, weil ihr Haus abgerissen und sie einer anderen Gemeinde zugeteilt wird.

«System ist zu wenig flexibel»

«Es gibt immer Fälle, die nach einer Ausnahme rufen», gab Robert Müller zu. Doch er formulierte auch gleich die Schwierigkeit, auf diese Ausnahmen einzugehen: «Das ist in der Schweiz besonders schwierig, weil hier alles detailliert geregelt und durchorganisiert ist.» Das System sei nicht flexibel. Ausserdem, so merkte Edith-Saner an, liege in vielen der besprochenen Punkte die Hoheit bei den einzelnen Gemeinden. Doch auch sie gab zu, dass es wünschenswert wäre, stärker auf Einzelfälle eingehen zu können.

Menschen nicht schikanieren

Weiteren Handlungsbedarf sah Lea Schmidmeister bei der Regelung, wonach Menschen mit abgewiesenem Asylgesuch den Kanton Aargau nicht verlassen dürfen. Das schikaniere die Betroffenen unnötig, denn das eigentliche Ziel, eine Rückkehr ins Herkunftsland zu beschleunigen, werde mit dieser Massnahme nicht erreicht. Es läge in der Hoheit der Kantone, diese Verordnung zu ändern, sagte die SP-Grossrätin. Robert Müller meinte: «Frau Schmidmeister wird im Grossrat einen Vorstoss machen, und ich werde ihm dann – je nachdem, wie extrem er formuliert ist – zustimmen.»

«Nicht miteinander, sondern mit der Politik streiten»

Immer wieder richtete der Moderator Michael Tomebosa sich ans Publikum und liess die Leute Fragen stellen. Zu Fragen Anlass gaben unter anderem die ungleichen Status der verschiedenen Geflüchteten: «Ist es nicht so, dass grundsätzlich auch für Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan gilt, was man für die Menschen aus der Ukraine annimmt – nämlich, dass sie wieder nach Hause zurückkehren wollen und werden, wenn der Konflikt vorbei ist?», fragte ein Mann. Die drei Mitglieder des Grossen Rates erklärten, dass der Kriegsausbruch in der Ukraine eine Ausnahme- und Notsituation gewesen sei, die rasches Handeln erfordert habe. Und dass niemandem gedient sei, wenn die verschiedenen Status gegeneinander ausgespielt würden.

Ein passendes Schlusswort richtete eine Frau aus dem Publikum an die Anwesenden: «Lasst uns nicht untereinander, sondern mit der Politik streiten. Wir müssen zusammenhalten, wir sind alles Menschen.»

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