21.12.2023

Die tiefe Brieffreundschaft von Eveline Güdemann mit dem Todeskandidaten Rickey Cummings
Jenseits von Schuld

Von Eva Meienberg

Die flackernde Kerze wirft ihren Schein auf das Kinderfoto von Rickey Cummings, das mit dem Bündel seiner Briefe auf der Kommode steht. Die rund 60 Briefe hat er Eveline Güdemann aus dem Todestrakt geschrieben. An diesem nasskalten Novembermorgen sitzt sie zu Hause auf ihrem Meditationskissen und schaut das Foto des schwarzen Jungen an, der in seinem weissen Kurzarmhemd, den Kopf auf die Hand gestützt, in die Kamera lacht. Nun wirft sie einen prüfenden Blick auf ihre Uhr und legt die Brille neben das Kissen. Es ist Zeit. Sie kreuzt die Beine, richtet den Oberkörper auf und schliesst die Augen. Seit über einem Jahr meditiert Eveline Güdemann jeden Dienstag mit ihrem Brieffreund Rickey Cummings. Bei ihr in Boniswil ist es dann 7.30 Uhr, bei Rickey Cummings im Staatsgefängnis Polunsky Unit in Texas 00.30 Uhr. Doch das spielt keine Rolle für Rickey Cummings. Für ihn ist die Nacht wie der Tag in seiner knapp sechs Quadratmeter grossen Einzelzelle.

Die Schuldfrage

Während der Pandemie hat Eveline Güdemann Postkarten an politische Gefangene in Belarus geschickt. «Ich wollte die Welt ein kleines bisschen heller machen», sagt die 45-Jährige. Auf einer Internet-Plattform, die Brieffreundschaften mit Strafgefangenen vermittelt, hat sie das Profil von Rickey Cummings entdeckt. Natürlich und ehrlich sei ihr der Mann erschienen, der von sich behauptet, unschuldig zum Tod verurteilt worden zu sein. Je besser sie ihn kennen gelernt habe, je weniger habe sie sich vorstellen können, dass er ein Mörder sein soll. Eine Brieffreundschaft mit einem Menschen zu pflegen, der schuldig ist, hat sie sich damals nicht vorstellen können. Heute fragt sie: «Sind wir Menschen nicht alle fähig, unter gewissen Umständen auf die schiefe Bahn zu geraten, Dinge zu tun, die wir sonst nie tun würden?»


In den Aufzeichnungen des Texas Departement for Criminal Justice wird der Tathergang so beschrieben: Am 28. März 2011 hat Rickey Cummings mit einem Komplizen und zwei Mitangeklagten auf ein Auto geschossen, in dem sich vier Männer aufhielten. Zwei Männer sind ihren Schussverletzungen noch am Tatort erlegen. Zwei weitere Männer sind geflohen. Auf seiner Website erzählt Rickey Cummings seine Version der Geschichte: Mangelhafte Verteidigung, rassistische Vorurteile und bestochene Zeugen haben zu seinem Todesurteil geführt. Seit elf Jahren sitzt der 34-Jährige in Einzelhaft. Ohne Beschäftigung wartet er auf den Termin für seine Exekution und hofft, dass das laufende Berufungsverfahren seine Unschuld vorher beweisen wird.

Was Menschen verbindet

Auf der ersten Postkarte, die Eveline Güdemann vor zweieinhalb Jahren ins Gefängnis geschickt hatte, waren Berge abgebildet. «Keep fighting!», schrieb sie, notierte ihre Adresse und hoffte auf eine Antwort. Einen Monat später bekam sie den ersten Brief von Rickey Cummings. In den rund 200 Briefen und Mails, die sie sich seither geschrieben haben, tauschen sie sich aus über Bücher, die sie sich gegenseitig empfehlen, über Politik, ihre Familien, über sich und ihre Spiritualität. Auf den nächsten Brief von Rickey Cummings könne sie jeweils kaum warten, sagt Eveline Güdemann. Sie spürt, dass es zwischen den Menschen etwas gibt, das sie verbindet – nichts Physikalisches, eher etwas wie Licht, das selbst grösste Distanzen überwinden kann. Vielleicht sei diese Verbindung das, was wir Menschen als Liebe bezeichnen, etwas, das hält und trägt. Rickey Cummings hat während seiner Haft begonnen, sich mit Sufismus zu beschäftigen, einer mystischen Strömung im Islam, gemeinsam haben sie dazu ein Buch gelesen. Die Idee, zur gleichen Zeit zu meditieren, sei von Rickey gekommen.

Eingesperrt sein

Langsam wird es heller draussen. Vom Boden aus gibt das Fenster die Sicht frei auf Telefonleitungen, die den dämmrigen Himmel zerschneiden. Eine Elster fliegt vom Nachbardach auf und verschwindet. Das alles sieht Eveline Güdemann nicht, ihre Augen sind zu. Wenn Rickey Cummings aus seinem Fenster schaut, sieht er Stacheldraht, Elektrozäune und Betongebäude. Um hinauszuschauen, muss er aber aufstehen. Das Fenster seiner Zelle befindet sich zehn Zentimeter unter der Decke. Ist etwas mehr als einen Meter lang und siebeneinhalb Zentimeter hoch. Eveline Güdemann weiss, wie es ist, eingesperrt zu sein. Seit ihrer Jugend hat sie mehrere Psychosen erlebt. Sie beschreibt diese Zustände so: «Vor einer Psychose erlebte ich alles sehr intensiv. Wenn ich traurig war, dann trotzdem auch irgendwie glücklich, weil alles Sinn ergab. Vor meiner ersten Psychose hatte ich das Gefühl, der Welt und dem Leben auf den Grund zu kommen. Mittendrin dann ist das Leben, wie ein Alptraum im Wachzustand, mit viel Todesangst verbunden. Einmal bin ich vor meinem Vater davongerannt, ich hatte Angst, eine Berührung von ihm würde mich umbringen. Oder ich konnte den meisten Menschen nicht in die Augen schauen, weil deren Blicke so dunkel und bedrohlich waren.» In solchen Phasen wurde Eveline Güdemann in psychiatrische Kliniken eingeliefert. Bei diesen fürsorgerischen Freiheitsentzügen ist es auch vorgekommen, dass sie in ein Zimmer eingeschlossen oder an ein Bett fixiert worden war. Dies seien traumatische Erfahrungen für sie gewesen.

Im Moment fühlt sich Eveline Güdemann gut. Das Medikament, das sie gegen eine erneute Psychose einnimmt, hat weniger Nebenwirkungen als das alte. Aber spontane Reaktionen sind schwierig. In Gesprächen fehlen ihr plötzlich die Ideen. Es fühle sich an, als sei sie blockiert, beschreibt Eveline Güdemann. Äusserlich fällt einzig das Zittern ihrer Hände auf – auch eine Nebenwirkung des Medikaments. Im Kindergarten, wo sie zweimal in der Woche einen halben Tag arbeitet, haben sie die Kinder sofort darauf angesprochen. Über ihre Krankheit zu reden, fällt ihr nicht schwer. Dass sie nur noch wenig arbeiten kann, hingegen schon. Die gelernte Fachfrau Gesundheit und Mutter zweier erwachsener Kinder würde gerne therapeutisch arbeiten in der Begleitung von Menschen in einer psychischen Krise. Aber schon die Anmeldung, das Erstellen eines Portfolios, kann sie momentan ohne Hilfe nicht bewältigen.

Soul Sister

Rickey sei ihr zu einem lieben Freund, einem Vertrauten – ähnlich einem Bruder – geworden. Soul Sister nennt Rickey Cummings sie in seinen Briefen. Sie denke mehrmals am Tag an ihn, etwa wenn sie am Traumfänger vorbeigeht, den er ihr geschickt hat – ein Mitinsasse hat ihn aus Schuhbändeln und einem Metallring von einer Flasche gefertigt. Der Austausch mit Rickey sei für sie beide eine grosse Bereicherung und die Verbindung mit ihm ein grosses Geschenk für sie. Eveline Güdemann öffnet ihre Augen, streckt ihre Beine aus und setzt ihre Brille wieder auf. Es ist 8 Uhr in Boniswil und 1 Uhr in Texas. Für Eveline Güdemann beginnt der Tag und für Rickey Cummings geht das Warten weiter auf den Termin für seine Exekution und das Hoffen, dass seine Unschuld vorher bewiesen wird.

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