03.02.2023

Tatjana Disteli vor dem Aufbruch nach Prag an die europäische Synode
«Jetzt müssen wir umkehren»

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Tatjana Disteli ist Generalsekretärin der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau.
  • Sie ist eine von vier Delegierten, die die Schweizer Bischofskonferenz an der kontinentalen Etappe des Synodalen Prozesses vertritt, die heute Sonntag, 5. Februar, in Prag beginnt.
  • Bis am 12. Februar diskutieren an der Kontinentalsynode 200 Personen über das Arbeitsdokument diskutieren.
  • Im Interview vor der Abreise zeigte sich Tatjana Disteli überzeugt, dass die laufende Synode die wohl letzte Chance ist für eine Kirche, die sich radikal wandeln muss.

Tatjana Disteli, wie ist Ihre Gefühlslage kurz vor der Abreise nach Prag?
Tatjana Disteli: Trotz immenser Arbeit im Vorfeld und der relativen Ungewissheit, was mich in Prag erwartet, verspüre ich grosse Freude, diesen Prozess miterleben zu dürfen. Daran hatte ich nicht mehr geglaubt. Viele meiner Hoffnungen, die ich als Theologiestudentin Ende der 90er-Jahre hatte, wurden nicht erfüllt. Jetzt bin ich Teil eines synodalen Prozesses, den es so noch nie gab. Allein schon Begegnung und Dialog sind etwas Neues auf dieser Stufe. Nun halte ich neu an der Hoffnung fest, dass Umkehr und Erneuerung möglich sind.

«Tagebuch aus Prag»

Während der kommenden Woche berichtet Tatjana Disteli täglich über ihre Eindrücke und Erlebnisse an der kontinentalen Synode in Prag.

Hier geht es zu ihrem Tagebuch.

Sie bilden zusammen mit Bischof Felix Gmür, Helena Jeppesen und Cristina Vonzun die Viererdelegation der Schweizer Bischofskonferenz. Wie kamen Sie zu dieser Aufgabe?
Bischof Felix hat mich angefragt. Ich denke, dass meine Erfahrung mit beiden Seiten des dualen Systems eine Rolle gespielt hat. Ich habe die staatskirchenrechtliche und die pastorale Seite nie als konkurrierend angesehen, sondern als sich gegenseitig ergänzend. Das Schweizer System ist einzigartig. Diese Erfahrung bringt nur unsere Delegation mit.

Wie haben Sie sich auf die Kontinentalsynode vorbereitet?
Wir haben mit den direkten Vorbereitungen erst vor zwei Monaten begonnen. Grundlage dafür war das «Arbeitsdokument für die Kontinentale Etappe», das vom Generalsekretariat der Synode im Vatikan erstellt wurde. Darin sind die Ergebnisse der ersten Phase aus allen Ländern der Welt zusammengefasst. Die zweite Grundlage bildet der «Bericht der katholischen Kirche in der Schweiz als Antwort auf die Fragen im Dokument für die kontinentale Etappe des Synodalen Prozesses». Zunächst haben wir drei delegierten Frauen uns in unterschiedlichen Kombinationen mit Jugendverbänden, Vertretungen der Ordensgemeinschaften und katholischen Frauenverbänden getroffen, live und online, und uns über das Vorbereitungsdokument ausgetauscht. Dann haben wir auch Statements entgegengenommen, beispielsweise von der römisch-katholischen Arbeitsgruppe des Europäischen Forums christlicher LGBTQ-Gruppen.

Gab es auch Treffen mit Bischof Felix?
Ja. Wir waren uns schnell einig: Unsere zentralen Themen sind die Partizipation, die Frauenfrage, die Subsidiarität und die Inklusion.

Was ist darunter zu verstehen?
Partizipation meint die Mitverantwortung aller, Subsidiarität bezeichnet das Konzept, dass Glaube in verschiedenen Gebieten und Kulturen anders gelebt werden kann, ohne die zentralen Glaubenswahrheiten aufzugeben. Inklusion bedeutet, dass alle Menschen – unabhängig von Zivilstand oder sexueller Orientierung, Zugang zur Gotteserfahrung haben und nicht diskriminiert werden dürfen.

Sind die hohen Erwartungen an den Synodalen Prozess aus Ihrer Sicht hilfreich oder hinderlich, die Erneuerung der Kirche voranzubringen?
Es muss uns klar sein: Die Welt schaut hin und hat Erwartungen. Zu Recht! Mit den Missbrauchsskandalen wurde offenbar, dass die Kirche selbst gegen die Nächstenliebe und alles, was ihr heilig ist, sündigt. Daraus gilt es Schlussfolgerungen zu ziehen und dann zu handeln. Wir alle – und besonders die Entscheidungsträger – stehen heute in grösster Verantwortung gegenüber Gott.

Das Arbeitsdokument

Die Grundlage der Kontinentalsynode in Prag ist das Dokument «Mach den Raum deines Zeltes weit»

Wie hoch ist das Risiko für die Kirche, wenn die – im Vorbereitungsdokument explizit erwähnte – Umkehr nicht gelingt?
Es wäre eine riesige Enttäuschung, verheerend für Kirche und Gesellschaft. Alle Leute, die sich hoffnungsvoll aufgemacht haben, an diesem Synodalen Prozess teilzunehmen, wären enttäuscht. Eine Austrittswelle, zumindest in Europa, wäre sehr wahrscheinlich. Das Vorbereitungsdokument zeigt: Wir müssen umkehren! Die entsetzlichen Missbrauchsfälle haben den Glauben der Menschen erschüttert. Wenn die Kirche den Anspruch hat, eine glaubwürdige Stimme in der Gesellschaft zu sein, muss sie diese Chance jetzt packen. Es ist wohl die letzte in unserer Gegenwart.

Das Programm sieht vor, dass die einzelnen Sitzungen anderthalb Stunden dauern. Ein gedrängter Zeitplan. Wie gehen Sie vor?
Wir haben noch kaum Informationen zu den inneren Abläufen in Prag erhalten, deshalb gilt es, sich vor Ort rasch und flexibel auf neue Situationen einzustellen. Für uns vier ist klar: Wir werden inhaltlich als Gruppe unterwegs sein, offen und transparent beraten und persönliche Statements abgeben.

Bieten vielleicht die Kaffeepausen Gelegenheit, Beziehungen zu knüpfen und brennende Fragen anzusprechen?
Auf jeden Fall. Mein Motto ist, ganz nach Martin Buber, «Alles Leben ist Begegnung». Ich werde in Prag die Gelegenheiten nutzen, gerade auch mit Delegierten ins Gespräch zu kommen, die religiös in einer völlig anderen Welt leben. Ich bin überzeugt, dass wir unsere jeweilige «Bubble» verlassen und miteinander von unserem Glauben her sprechen müssen. Es ist nicht das Ziel der römisch-katholischen Kirche, ein heiliger Rest, eine kleine Minderheit zu werden.

Was ist denn das Ziel?
Das Ziel ist es, eine Kirche zu sein, die ihren Auftrag erfüllt, den Menschen Transzendenz- und Gotteserfahrung ermöglicht und Diakonie glaubwürdig lebt. Das wäre gar nicht so schwierig, das Programm dazu liegt vor uns: die Frohe Botschaft. Sie ist einfach und klar.

Und was macht es der Kirche so schwierig, sich zu verändern?
Schwierig macht es die Angst der Würdenträger, falsche Entscheidungen zu treffen. In den letzten Tagen vor Beginn der Kontinentalsynode wurden diese Gegenkräfte wieder stärker spürbar. Daraufhin erinnerten der Leiter des Synodensekretariats, Kardinal Mario Grech, und der Hauptberichterstatter der Synode, Kardinal Jean-Claude Hollerich, die Bischöfe in einem Brief daran, die Kontinentalsynode nicht zu instrumentalisieren. Sie sollten sich in Prag «um Einheit in der Kirche bemühen». Doch die Kirche kann sich verändern, ohne ihre übergeordneten Glaubenswahrheiten preiszugeben.

Schwierig ist auch, dass das Lehramt mit den theologische Fakultäten keinen Austausch pflegt. Die katholische Moraltheologie steht exemplarisch dafür. Wir müssen uns mutig daransetzen, sie fundiert weiterzudenken, ihren Sündenbegriff zu hinterfragen. Es ist wichtig, auch moraltheologische Richtlinien im Kontext ihrer Entstehung zu betrachten und zu entscheiden, ob sie heute so noch sinnvoll sind. An den theologischen Fakultäten ist dies längst geschehen, doch die Erkenntnisse fliessen bisher leider nicht ins Lehramt der Kirche ein. Die Synode hat eine tiefenpsychologische Komponente. Jeder Person bringt ihre eigene Glaubensgeschichte mit. Wir müssen uns also fragen: «Was heisst Rechtgläubigkeit heute?» Die Kirche kann sich verändern, ohne ihre übergeordneten Glaubenswahrheiten preiszugeben.

Welches sind die Glaubenswahrheiten?
Darüber müssten wir lange sprechen. Im Zentrum steht das oberste Gebt der Gottes- und Nächstenliebe – davon wird alles abgeleitet. Das Gesetz ist für die Menschen da. Wo die Regeln der Kirche suchende Menschen verletzen und verstossen, statt sie anzunehmen, wie sie sind, da handelt sie falsch.

Überzeugt Sie die Methode des Synodalen Prozesses?
Über die Methode kann man streiten, sie stösst an Grenzen. In Prag sind beispielsweise keine Obdachlosen präsent, keine todkranken Menschen, die andere Schwerpunkte setzen würden. Auch die Ordensgemeinschaften mit ihrer je eigenen, tiefen Spiritualität sind kaum vertreten, was ich sehr bedaure.

Aber ich fände es fatal, dem synodalen Prozess deswegen allzu kritisch gegenüberzustehen. Ich will mich ganz einlassen, den anderen ernsthaft zuhören. Alle Beteiligten müssen sich einlassen. Auch ich muss im ersten Schritt, meine vorgefassten Meinungen loslassen. Die Synode könnte man als Seelsorgegespräch der Kirche mit sich selbst bezeichnen.

Was haben Sie persönlich im Lauf des Synodalen Prozesses gelernt und erkannt?
Mir wurde bewusst, wie sehr die internen Spannungen nach aussen ausstrahlen und der Kirche schaden. Wir brauchen neue Hoffnungszeichen! Wenn wir die Verantwortung annehmen, den Auftrag Gottes in dieser Welt zu erfüllen, dann müssen wir uns auf den Weg machen, radikal glaubwürdig zu werden: Echte Einsicht, keine Tabus mehr, dafür jesuanische Visionen, Mut zur Umkehr, Beichte – und Neuanfang: Auf diesem Boden können wir dann neue Wege finden, glaubwürdig hin zu den Menschen in und ausserhalb der Kirche. Eine wichtige Erkenntnis für mich ist auch, dass die katholische Kirche sich überall auf der Welt mit den gleichen Fragen beschäftigt und es explizit nicht wahr ist, dass gewisse Themen nur in unserer säkularisierten westlichen Gesellschaft aktuell sind.

Etwa die Frage nach der Stellung der Frau.
Genau. Das Grundlagendokument hält das deutlich fest. Stimmen aus allen Erdteilen wünschen Mitbestimmung, gleiche Verantwortung und gleiche Beauftragung beider Geschlechter. Mir persönlich liegt dieses Thema sehr am Herzen. Wie Jesus zu seiner Zeit mit den Frauen umging, sagt alles. Frauen leiteten Gemeinden und tauften, bis ins 4. Jahrhundert hinein. Ich bedaure, dass wenig theologisch und kirchenhistorisch argumentiert wird. Der Zerfall der kirchlichen Strukturen und Gemeinschaften schreitet fort, solange die Kirche ihre jetzigen Zugänge zum Priestertum aufrechterhält. Wenn wir davon ausgehen, dass Gott existiert, und das Beste will für diese Welt, muss die Kirche die vielfältigen Charismen wahrnehmen, prüfen, und die Menschen aussenden. Um Gottes und der Menschen willen.

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