09.11.2015

Markttreiben und Gänsebraten

Von Marie-Christine Andres Schürch

Der heilige Martin von Tours ist vor mehr als 1600 Jahren gestorben. Das Brauchtum rund um seinen Gedenktag aber ist bis heute lebendig. Zu erleben zum Beispiel am kommenden Mittwoch, 11. November in Rohrdorf.

Es waren die Gänse, die den heiligen Martin verrieten. Das sagt zumindest eine jüngere Legende: Danach war Martin im Jahr 372 dazu ausersehen worden, Bischof von Tours zu werden. Aus Bescheidenheit und aus Respekt vor dem hohen Amt soll er sich jedoch in einem Gänsestall versteckt haben, um der Aufgabe zu entgehen. Doch das Geschnatter der Tiere offenbarte sein Versteck. Der Heilige Martin war in der lateinischen Kirche der erste, der nicht durch seinen Tod als Märtyrer, sondern durch sein vorbildhaftes Leben Heiligkeit erreichte. Vor mehr als 1600 Jahren, am 8.11.397, ist der Bischof von Tours gestorben. Aus dem Lateinischen «dies Sancti Martini» – «Tag des Heiligen Martin» ist die Bezeichnung für den Festtag des Heiligen am 11. November abgeleitet. «Martini» feiern wir an dem Tag, an dem Martin beerdigt wurde.

Farbiges Volksfest in Rohrdorf
Rund um den Festtag des Heiligen Martin von Tours hat sich ein reiches Brauchtum entwickelt und bis heute erhalten. Zum Beispiel in der Pfarrei Rohrdorf. Sie feiert am 11. November das Fest ihres Kirchenpatrons als fröhlich-farbiges Volksfest. Den Auftakt zu den Rohrdorfer Martini-Feierlichkeiten bildet der ökumenische Gottesdienst in der Kirche St. Martin. Schüler aus Oberrohrdorf und Remetschwil sowie Bewohnerinnen und Bewohner vom «Haus Morgenstern» in Widen gestalten jeweils den Gottesdienst mit. Die Legenden um das Leben des Heiligen haben im Gottesdienst ebenfalls Platz.

Jesus in Gestalt des Bettlers
Die berühmteste Martins-Legende ist die Mantelteilung. Im Alter von 15 Jahren war Martinus in das römische Heer eingetreten. In einem besonders kalten Winter traf er mit anderen Soldaten an einem Stadttor auf einen Bettler. Der Legende nach kümmerte sich keiner von Martins Begleitern um den frierenden Mann. Martin jedoch wollte helfen. Da er außer Uniform und Schwert nichts dabei hatte, teilte er kurzerhand seinen Mantel in zwei Stücke und gab eines davon dem Bettler. Das soll ihm den Spott seiner Mitsoldaten eingebracht haben. Doch Martin ließ sich nicht beirren: In der folgenden Nacht erschien ihm Jesus im Traum und dankte ihm für die gute Tat. Denn in der Gestalt des Bettlers habe Martin dem Gottessohn selbst geholfen: «Martinus, der noch nicht getauft ist, hat mich mit diesem Mantel bekleidet», sagte Jesus zu Martin.

Vom Soldat zum Bischof
Von da an war das Leben von Martin ganz vom christlichen Glauben geprägt. Er ließ sich taufen und trat aus dem Militär aus. Er wurde Priester und lebte zunächst als Einsiedler. In der Nähe des französischen Poitiers gründete er das erste Kloster des Abendlandes. In seiner zweiten Gründung, Marmoutier, fanden sich bald Gleichgesinnte, die mit ihm ein Leben in Einfachheit, Gebet und Besitzlosigkeit lebten. Martin wurde als Ratgeber und Nothelfer bekannt. Als einige Jahre später ein neuer Bischof von Tours gesucht wurde, waren sich die Menschen schnell einig, dass es Martin werden sollte. Martin starb erst im hohen Alter von 81 Jahren. Ausgehend von Frankreich breitete sich seine Verehrung schnell aus. Dort soll es schon bis Ende des Mittelalters mehr als 3500 Martinskirchen gegeben haben. Sein Grab in der Kathedrale von Tours ist eine bedeutende Wallfahrtsstätte.

In Rohrdorf zieht der Herold durchs Dorf
In Rohrdorf zieht nach dem Gottesdienst der Herold von der Kirche aus durch das Dorf. Er trägt die Fahne mit dem Abbild des heiligen Martin, die Gottesdienstgemeinde folgt ihm zum Schulhaus Hinterbächli. Dort stehen rund ums Schulhaus die Marktstände für den Martini-Märt, wo Schüler Selbstgebasteltes und Gebackenes verkaufen, die Frauengemeinschaft, der Familientreff und diverse weitere Teilnehmer ihr Angebot ausbreiten. Die reformierte und katholische Kirchgemeinde von Rohrdorf, die politische Gemeinde sowie die Schulen von Oberrohrdorf und Remetschwil organisieren das fröhliche Martini-Volksfest gemeinsam. Federführend ist die Martini-Gruppe, in denen Vertreter aller Organisationen sitzen.

Basler Herbstmesse und Berner Zibelemärit
Märkte an Martini haben lange Tradition. Sowohl der Zibelemärit in Bern und die Herbstmesse in Basel gehen auf Formen des Martini-Marktes zurück. Die Herbstmesse von Basel als ältester und grösster Jahrmarkt der Schweiz ist offiziell eröffnet, wenn das Glöcklein der Basler Martinskirche sie eingeläutet hat. Martini war bis in die Neuzeit ein wichtiger Rechts- und Wirtschaftstermin. An Martini endete das Wirtschaftsjahr des Bauern, an diesem Datum begannen und endeten Pachtverträge, Zinsfristen und Lohnverhältnisse. An das Personal wurden die Löhne bezahlt, Knechte und Mägde konnten auf einem der Märkte einen neuen Arbeitgeber suchen. Wenn der Obrigkeit der so genannte «Zehnte» abgeliefert werden musste, gehörten auch Gänse zu den Abgaben. Die «Gans-Abhauet», die im luzernischen Sursee bis heute ein grosses Spektakel darstellt, ist ein Beispiel dafür.

Festessen vor dem Adventsfasten
Auch in Rohrdorf kommt der Vogt, um bei seinen Untertanen den «Zähnte» einzutreiben. Allerdings erntet er meist nur hartes Brot, faule Kartoffeln und noch faulere Ausreden. Ein Gaudi für Gross und Klein, die Turnhalle ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ein Glücksrad, das Schülerlotto, Wettbewerbe und Spiele bieten beste Unterhaltung. Dazu können die Festbesucher in der Turnhalle zu Mittag essen. Natürlich hat auch das Essen an Martini Tradition. Denn früher begann um Martini die Schlachtzeit, die Metzgete, die mit üppigen Essen verbunden war, bei denen auch die Martinsgans und der neue Wein aufgetischt wurden. Die Festessen rund um den Martinstag gehen einerseits auf Erntefeste zurück, anderseits wollte man wohl vor dem mit Martini beginnenden Adventsfasten noch einmal richtig geniessen. Viele Zünfte kennen heute noch das Martini-Mahl, ein interner Anlass, bei dem der im Laufe des Jahres Verstorbenen gedacht wird und die neuen Zünfter aufgenommen werden.

Sieben Aargauer Pfarreien feiern Patrozinium
Neben dem Markttreiben und den kulinarischen Traditionen kennt man bis heute auch Martinsumzüge. In Deutschland sind es Kinder mit Lampions, in der Schweiz mit Räbeliechtli, die den Heiligen auf seinem Umritt begleiten. Die Umzüge sind Teil der Lichtsymbolik der katholischen Kirche, welche am Allerseelentag am 2. November beginnt und über Advent und Weihnachten bis Lichtmess am 2. Februar führt. Im Aargau feiern auch die Pfarreien Lengnau, Entfelden, Mumpf, Niederwil, Wittnau und Zufikon feiern am Martinstag ihr Patrozinium. In jeder Pfarrei findet sich ein Stück traditionelles Brauchtum. Die Pfarrei St. Martin Niederwil organisiert einen Räbeliechtliumzug mit dem Ritter St. Martin. Bevor der Umzug beginnt, gibt es bei der Kirche eine Darstellung zur Legende des Heiligen Martin. Auch Wittnau gedenkt seinem Kirchenpatron mit einem Räbeliechtliumzug, bei dem auch das Leben des Heiligen in Erinnerung gerufen wird. Die Viertklässler spielen die Geschichte des heiligen Martin beim Martinsfeuer auf dem Kirchenplatz. Und in Zufikon schliesslich kommt der Heilige am 11. November höchstpersönlich vorbei. Nach einer abendlichen Feier in der Kirche besucht St. Martin die Anwesenden, die ihn anschliessend mit Laternen, Räbeliechtli oder geschnitzten Kürbissen auf seinem Umritt begleiten.

 

 

 

 

 

 

 

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