09.03.2024

Mehr als 9000 Aargauer Katholikinnen und Katholiken traten 2023 aus der Kirche aus
Missbrauchsstudie führt zu einer Verdoppelung der Kirchenaustritte im Aargau

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Die Römisch-Katholische Kirche im Aargau hat im vergangenen Jahr 9’075 Mitglieder verloren. Das sind fast doppelt so viele wie im Jahr 2022.
  • Die Landeskirche nennt in ihrer Medienmitteilung die Veröffentlichung der Pilotstudie zum Missbrauch als Grund für die hohen Austrittszahlen.
  • Die Austrittswelle stellt Landeskirche und Kirchgemeinden vor finanzielle Herausforderungen. Trotzdem begrüsst die Katholische Kirche im Aargau die Missbrauchsstudie als längst fälligen Schritt in Richtung Transparenz und Verantwortung.

Die hohen Austrittszahlen aus der Römisch-Katholischen Kirche im Jahr 2023 stehen ganz im Zeichen der Veröffentlichung der von der Römisch-Katholischen Kirche in der Schweiz in Auftrag gegebenen Pilotstudie zum Missbrauch seit 1950. Die erschütternden Missbrauchszahlen aus der Studie, insbesondere aus den frühen Jahren, führten ab September 2023 zu einer grossen Austrittswelle von Kirchenmitgliedern im Aargau und summierten sich schliesslich zu einer Verdoppelung der Austritte im Vergleich zu den Vorjahren.

Massiv mehr Austritte ab September 2023

Im Kanton Aargau gehörten 2023 von den gut 720’000 Einwohnerinnen und Einwohnern (Stand 30. Juni 2023) rund 27.5 % der Römisch-Katholischen Kirche an. Von diesen 197’728 Mitgliedern traten im letzten Jahr 9’075 oder 4.59 % aus der Kirche aus. Die Verdopplung der Austritte, deren Zahl im Vorjahr noch bei 4’559 Personen lag, sei in erster Linie auf die am 12. September 2023 präsentierten Resultate der Studie «Aufklärung Missbrauch» in der Römisch-Katholischen Kirche in der Schweiz seit 1950 zurückzuführen, schreibt die Landeskirche in ihrer Medienmitteilung. Dieser Schluss ergibt sich daraus, dass die Austrittszahlen ab September 2023 im Vergleich zu den Vorjahren massiv höher gewesen seien.

Die Studie «Aufklärung Missbrauch» ist eine unabhängige historisch-wissenschaftliche Untersuchung, welche die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche Schweiz zum Ziel hat. Sie wurde von den drei nationalen kirchlichen Institutionen der Schweiz – der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und der Konferenz der Vereinigung der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (KOVOS) der Universität Zürich in Auftrag gegeben und wird bis 2026 fortgeführt.

Zeichen für einen wichtigen Gesinnungswechsel

Trotz der hohen Austrittszahlen begrüsst die Katholische Kirche im Aargau die Studie zur Aufarbeitung des Missbrauchs innerhalb der Römisch-Katholischen Kirche in der Schweiz als wichtigen und längst fälligen Schritt in Richtung Transparenz und Verantwortung für die vergangenen Taten. Was geschehen sei, dürfe nicht wieder geschehen und solle mit den bereits seit 2002 erschienen ersten gültigen Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz zu Prävention und zum Umgang mit Fällen und Meldungen verhindert werden. Für Mitarbeitende der Römisch- Katholischen Kirche im Aargau gilt seit 2010 eine vertraglich festgehaltene Anzeigepflicht bei Kenntnisnahme von Fällen gegen die persönliche Integrität. Laut Mitteilung der Aargauer Landeskirche greifen die unabhängige Meldestelle und der Genugtuungsfonds für Opfer, Schulungen in Nähe- und Distanz sowie Leumundszeugnisse für pastoral tätige Personen bereits heute. Kirchenratspräsident Luc Humbel betont, dass die Römisch-Katholische Kirche im Aargau als Institution punkto Verhinderung von Missbrauch heute gut aufgestellt sei.

Auch Eintritte, die sich auf die Studie beziehen

Der hohen Zahl von Austritten stehen 161 Wiedereintritte und rund 1’000 Erstkommunionen gegenüber. Rückmeldungen geben Grund zur Hoffnung, dass die Studie sich letztlich positiv auf die Glaubwürdigkeit und damit auf die Mitgliederzahl auswirkt. Luc Humbel erklärt: «Wir haben auch Eintritte, die sich explizit auf die Studie beziehen, weil wir hinschauen und unsere Arbeit machen.»

SBK, RKZ und KOVOS haben auf nationaler Ebene weitere Massnahmen beschlossen, mit denen die Aufarbeitung fortgesetzt wird und institutionelle Mängel angegangen werden: Es gibt noch viel zu tun im Bestreben, systemische Defizite und Risiken zu erkennen und anzugehen, Missbräuche zu ahnden und Vertuschung zu verhindern. Die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Massnahmen für die Zukunft seien Zeichen für einen wichtigen Gesinnungswechsel und würden der Römisch-Katholischen Kirche helfen, sich zu verändern. Weiter sei die Römisch-Katholische Kirche gefordert, ihre Reformbestrebungen auch im Bereich der Gleichberechtigung glaubwürdig umzusetzen.

«Katholikinnen und Katholiken müssen den Mehrwert erkennen»

Die grosse Zahl der Austritte stellt die Kirchgemeinden und die Landeskirche vor finanzielle Herausforderungen, da sich die Kirche durch Kirchensteuern ihrer Mitglieder finanziert. Die Landeskirche unterstützt mit ihren Mitteln die Kirchgemeinden und Pfarreien vor Ort, aber auch Jugendarbeit, spezialisierte Seelsorge zum Beispiel in den Aargauer Spitälern, Kliniken und Heimen, christliche Bildung und Bekämpfung von Armut über katholische Hilfswerke wie die Caritas Aargau oder Einrichtungen wie die Notschlafstelle Aargau. Auch die Bewahrung der Schöpfung durch Unterstützung von Umweltprojekten oder der Unterhalt der kulturhistorischen Güter gehören zu den Aufgaben der Landeskirche.

Kirchenratspräsident Luc Humbel sagt: «Katholikinnen und Katholiken müssen für sich selber und für die Gesellschaft den Mehrwert erkennen, der Kirche anzugehören, auch wenn sie nicht mehr regelmässig die Gottesdienste besuchen. Die Kirche bietet für Menschen in allen Lebenslagen Seelsorge und Gemeinschaft. Sie engagiert sich für die Schwachen am Rande der Gesellschaft. Damit erfüllt sie auch heute noch eine unverzichtbare Funktion.»

…und sie bewegt sich doch

«Die Weltsynode im Oktober 2023 in Rom hat sich für mehr regionale Unabhängigkeit in unserer weltumspannenden Kirche ausgesprochen und das an einer Synode, an der zum ersten Mal auch Frauen gleichberechtigt teilnahmen. Wir sind voller guter Hoffnung, dass sich die Kirche eben doch bewegt. Das sind erste Schritte, um die Glaubwürdigkeit in der heutigen Zeit wiederzugewinnen», bekräftigt Luc Humbel.

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