18.04.2024

Im Hospiz Aargau können Menschen nach ihrem eigenen Willen letzte Schritte tun
Über das Leben hinauswachsen

Von Marie-Christine Andres Schürch

  • Da sein, lachen und weinen. Das Hospiz Aargau betreut und begleitet Menschen in ihrer letzten Lebensphase.
  • In den drei Bereichen Hospiz Stationär, Hospiz Ambulant und Hospiz Trauertreff engagieren sich neben 30 Festangestellten mehr als 100 Freiwillige.
  • Ein Besuch im Hospiz und das Gespräch mit einer Freiwilligen zeigen: Menschen in ihren letzten Wochen, Tagen und Stunden beizustehen, ist eine sinnstiftende und erfüllende Aufgabe.

Der Ort, an dem im Durchschnitt jede Woche zwei Menschen sterben, befindet sich an der Fröhlichstrasse. Ein gut gelaunter Mann in leuchtend rotem Kapuzenpulli begrüsst die Besucher. Der Strassenname, die Pullifarbe und der ungezwungene Empfang unterstreichen, was Lars Hollerbach später sagen wird: «Das Hospiz ist ein Ort des Lebens.»

Wertvolle Freiwilligenarbeit

Foto: Roger Wehrli

Das Hospiz Ambulant sucht Freiwillige, die ​kranke und sterbende Menschen zu Hause begleiten. Interessierte melden sich bei der Einsatzzentrale unter der Telefonnummer 079 320 99 15. www.hospiz-aargau.ch

Hollerbach ist Mitglied der Geschäftsleitung des Hospizes Aargau mit seinen drei Bereichen Hospiz Stationär, Hospiz Ambulant und Hospiz Trauertreff. Im Haus an der Fröhlichstrasse in Brugg, wo früher die Geburtenabteilung des Bezirksspitals untergebracht war, nimmt das stationäre Hospiz Menschen auf, die unheilbar krank sind und deren Lebenszeit bald zu Ende geht. Hier verbringen sie, betreut von Fachpersonen aus Pflege, Physiotherapie, Psychologie oder Seelsorge, ihre letzten Monate, Wochen und Tage. Die Palliativ-­Ärztin aus dem nahen Pflegezentrum Süssbach kommt mehrmals am Tag auf Visite vorbei. Für die Schmerztherapie werden die Spezialisten des Schmerzzentrums vom KSB hinzugezogen. Ganz wichtig sind die Freiwilligen, die den Menschen in der letzten Lebensphase Zeit schenken. Neben 30 Festangestellten engagieren sich etwa 100 Freiwillige in den drei Bereichen des Hospizes Aargau, das sich auch aus Spenden finanziert.

Fachpersonen und Freiwillige

Das Hospiz hat zehn Zimmer. Einige der Türen sind geschlossen, andere haben bloss einen Vorhang gezogen: Jeder Patient entscheidet selbst über den Grad seiner Privatsphäre. Auf dem Flur läuft immer etwas, hier treffen Pflegende auf Angehörige, niemand muss extra leise sein. Der Umgang miteinander ist herzlich. «Im Hospiz betreiben wir keinen Aktionismus. Wir halten auch die Stille aus. Wir verhalten uns möglichst normal, wir sind natürlich, wir sind einfach da», erklärt Hollerbach. Auch das Sterben sei ein natürlicher Prozess: «Es vollzieht sich in Rhythmen, die nicht in unserer Hand liegen, es wird seinen Sinn haben.»

Lars Hollerbach ist Mitglied der Geschäftsführung von Hospiz Aargau. | Foto: Roger Wehrli

Abschiedsritual

Über hundert Menschen sterben im Durchschnitt jedes Jahr im Hospiz in Brugg. Einige leben nach dem Eintritt nur noch wenige Stunden, andere einige Monate. An diesem Nachmittag brennt vor einer Zimmertür eine Kerze. Vor wenigen Stunden ist hier ein Patient gestorben. Auch nach dem Tod herrscht im Hospiz keine Eile. In Ruhe können sich die Angehörigen verabschieden. Später, wenn die Bestatter den Sarg abholen, gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Kerze hinter dem Sarg her. Sie sprechen zum Beispiel einen Segen, erzählen eine Begebenheit aus der letzten Lebensphase des Verstorbenen und nehmen dann Abschied vor dem Lift. «Hier ist unsere gemeinsame Reise zu Ende», sagt Hollerbach. Dieser klare Schlusspunkt sei wichtig, weil am nächsten Tag ein neuer Mensch kommt, der willkommen geheissen wird.

Erinnern, lachen, weinen

Im hintersten Teil des Hospizes befindet sich das Stübli, liebevoll eingerichtet lädt es zum Verweilen ein. Eine breite Rampe führt vom Stübli hinaus auf die Dachterrasse. Dort ist vieles möglich: mit dem Bett rausfahren, unter dem Sternenhimmel übernachten, rauchen. Die Patientinnen und Patienten im Hospiz sollen bis zuletzt Würde und Autonomie wahren können. Auch beim Essen: Das Hospiz serviert auch halbe Portionen oder noch kleinere. Und dann, wenn jemand nicht mehr essen mag, auch nur noch einen Löffel vom Lieblingsjoghurt, eine Suppe, einen Orangenschnitz. «Menschen können hier letzte Schritte tun, nach ihren eigenen Wünschen. Würde jemand mitten in der Nacht einen Teller Pommes wünschen, wir würden es möglich machen», sagt Hollerbach.

An der Wand im Flur wächst eine Spirale aus farbigen Steinen. Jeder Stein ist vom Atlantik glattgeschliffen, sorgfältig bemalt und mit den Initialen einer Person versehen, die im Hospiz gestorben ist. Das Kunstwerk war nicht geplant, sondern hat sich nach und nach ergeben, ausgehend vom ersten Stein, den eine Frau während des Corona-Lockdowns im Jahr 2020 bemalte. Seither verziert sie für jeden Menschen, der im Hospiz stirbt, einen persönlichen Stein. Hollerbach ist glücklich über die Spirale. Sie ist nicht nur Blickfang, sondern bietet immer wieder Gesprächsstoff: «Verwandte von Verstorbenen kommen vorbei, betrachten den Stein, erinnern sich, lachen und weinen.»

Maria Meier-Valente begleitet als Freiwillige seit vielen Jahren schwer kranke und sterbende Menschen in deren Zuhause. | Foto: Roger Wehrli

Tatkräftig und feinfühlig

Maria Meier-Valente ist seit rund 30 Jahren als Freiwillige für das ambulante Hospiz tätig und betreut schwer kranke und sterbende Menschen in deren Zuhause. Mit ihrem Auto fährt sie in die hintersten Ecken des Kantons. Mehr als einmal ist sie bei ihren Einsätzen im Schlamm steckengeblieben, hat sich in einem Wald verfahren oder sich durch einen Schneesturm gekämpft. Die 80-Jährige ist seit den Anfängen beim Hospiz Aargau engagiert. Sie kannte dessen Gründerin Luise Thut persönlich und half beim Aufbau der Hospiz-Arbeit im Kanton. Als Einsatzleiterin koordiniert Meier-Valente auch die Einsätze der anderen Freiwilligen des ambulanten Hospizes. Die Freiwilligen bestimmen selbst, wie häufig sie einen Einsatz leisten wollen. Angehörige Schwerkranker können sich rund um die Uhr bei der Einsatzzentrale melden.

Auf die Frage, was eine Freiwillige oder ein Freiwilliger braucht, um diesen Dienst zu erfüllen, schildert Meier-Valente eine Situation, die sie erlebt hat: Kurz nach Weihnachten fuhr sie zu einem schwer kranken Mann, der von seiner Tochter gepflegt wurde. Als sie ankam, teilte die Tochter ihr mit, dass sie jetzt weggehe, weil sie den Vater nicht mehr pflegen könne und wolle. Meier-Valente versprach der Tochter, den Vater eine Nacht lang zu betreuen. Am nächsten Mittag müsse sie aber zurück sein, um das weitere Vorgehen zu regeln. «Die Freiwilligen im ambulanten Einsatz müssen Entscheidungen treffen, heikle Situationen mit Fingerspitzengefühl regeln, aber auch Klartext sprechen», weiss sie. Manchmal herrsche vor Ort grosse Hilflosigkeit: «Ich muss den Menschen Sicherheit vermitteln.» Die Freiwilligen seien meist reifere Menschen, hätten Kinder grossgezogen oder die eigenen Eltern gepflegt. Sie selbst verbringt pro Jahr etwa 400 Stunden bei Patienten und etwa 400 Stunden am Telefon.

Jeder Mensch stirbt auf seine Art

Meier-Valente hat viele Menschen sterben sehen. «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Sterben ganz individuell ist, jeder stirbt anders», sagt sie. Wenn sie im Auto nach Hause fährt, lässt sie frische Luft herein, hört Musik. Sie lässt das Erlebte unterwegs zurück und kommt leer zu Hause an. «Wer stabil im Leben steht, kann diese Aufgabe stemmen. Solange ich Auto fahren kann, mache ich weiter», sagt sie.

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