31.12.2015

Wenn Weihnachten plötzlich alles bedeuten kann

Von Anne Burgmer

Weihnachten scheint das Symbol par excellence für «christliche Werte» zu sein, aber worum es bei diesen letztlich geht, scheint undefinierter denn je. Die Diskussion erinnert ein bisschen an ein Suppenrezept: bei zehn wahllos herausgepickten Rezepten für Kartoffelsuppe gibt es nur bei zwei Zutaten Einigkeit: In die Suppe gehören Kartoffeln und Bouillon. Der Rest ist Variation, je nach Geschmack, Vorliebe, regionaler oder familiärer Tradition. Bei einer Suppe mag das angehen. Bei Religion ist das bedenklich.

Die Diskussion um Weihnachten wurde auch 2015 geführt. Auch in diesem Jahr gab es konsumkritische Kommentare, den Wunsch der Rückbesinnung auf die Kernaussage von Weihnachten und – deutlicher als auch schon – die Position, Weihnachten könne einfach als Kulturgut ohne Religionsbezug gefeiert oder auch ignoriert werden. Spitzenbeispiel für die Ambivalenz des Festes ist vielleicht die Neuenburger Krippe. Diese stand unter dem Weihnachtsbaum am Stadthaus. Ein Gemeinderat liess sie mit der Begründung entfernen, die Tanne sei für alle Bürger, Konfessionslose wie Gläubige, und solle nicht mit religiösen Symbolen in Verbindung gebracht werden. Zudem seien die Figuren nicht im Auftrag des Gemeinderats aufgestellt worden. Es folgten heftige Reaktionen, so dass die Krippe schlussendlich an der reformierten Kirche aufgestellt wurde, dem passenderen Ort, wie es in einer Medienmitteilung der Stadt heisst.

Ein ausgehöhltes Fest
Eine Frage, die im Zusammenhang mit dieser Episode gestellt wurde: Wo bleibt das Christentum, wenn sich nicht mal Behördenmitglieder zu unseren Werten bekennen? Der Schriftsteller Pedro Lenz begann einen Text auf blick.ch mit den Worten: «Stellen Sie sich vor, es ist Weihnachten und niemand will wissen, worum es geht?» Wann, so fragt er, wenn nicht an Weihnachten, könnten wir uns auf unsere Werte besinnen? In der NZZ am Sonntag befürchtet Patrick Hollenstein, dass das Fest Christi Geburt im Kern ausgehöhlt zu werden droht, wie dies bereits mit Pfingsten und Ostern geschehen sei. Die in den Medien geführte Diskussion zeigt: Weihnachten scheint das Symbol par excellence für «christliche Werte» zu sein, aber worum es bei diesen letztlich geht, scheint undefinierter denn je.

Christentum – ein ideologischer Selbstbedienungsladen?
Insgesamt erinnert der schwammige Begriff der «christlichen Werte» an die eingangs erwähnte Kartoffelsuppe. Man kann unendlich viele Zutaten zufügen und sich hervorragend darüber streiten, wie eine richtige Kartoffelsuppe zubereitet werden muss. Geht es um christliche Werte, scheint es ähnlich: Weil es keinen Konsens darüber gibt, was diese Werte letztendlich ausmachen, kann die Formulierung «christliche Werte» zu einem gefährlichen Schlagwort werden. Anna Rothenfluh schreibt dazu in einem Artikel auf watson: «Parteien mit gänzlich unterschiedlichen Ausrichtungen stützen sich allesamt auf diese ominösen Werte und legen sie dementsprechend flexibel aus. Nur, wenn ein Ausdruck alles bedeuten kann, ist er dann überhaupt noch etwas wert? Und wie gefährlich kann er werden, wenn er mit beliebigen Inhalten gefüllt wird?» Wenn Teile der SVP den Schutz «christlicher Werte» als Abgrenzungs- und Abwehrkriterium gegenüber Flüchtlingen benutzen, werden Nächsten- und Feindesliebe oder Barmherzigkeit nach Belieben aus dem christlichen Wertekanon ausgeklammert, beziehungsweise nur unter bestimmten Voraussetzungen dazugezählt.

Christlich ohne Glauben?
Zum einen erklärt sich die Vielfalt der Definitionen der «christlichen Werte» sicherlich daraus, dass auch Menschen, die nicht mehr gläubig sind oder einer Kirche angehören, sich im christlich geprägten Abendland verwurzelt fühlen und den Begriff jenseits von Religion und persönlichem Glauben verwenden. Doch stellt sich die Frage, ob dann nicht besser von Kultur gesprochen werden sollte. Bemerkenswert ist, dass unter dem watson-Artikel eine gehaltvolle und faire Diskussion über Glaube und Religion geführt wird. Mit Diskussionsteilnehmern, die sich selbst im ganzen Spektrum zwischen gläubig und atheistisch verorten. Konkrete Haltungen wie Barmherzigkeit oder Nächstenliebe werden als wichtig für die Schweizer Gesellschaft verstanden – auch ohne expliziten Bezug zum christlichen Glauben. Einigkeit herrscht ebenfalls darüber, dass dem Begriff «christliche Werte» mit Skepsis zu begegnen sei, weil die Schwammigkeit der Formulierung die Gefahr des Missbrauchs und der Instrumentalisierung beinhaltet. Zum Beispiel, wenn «christliche Werte» gezielt für antiislamische Politik benutzt werden.

Die Aufgabe der Kirchen
Angesichts der Tatsache, dass aktuell Menschen, mit unterschiedlichen Religionen und Überzeugungen nach Europa und in die Schweiz kommen und vor dem Hintergrund, dass die Zahl der Konfessionslosen weiter steigt, ist es wichtig, neu zu bestimmen, was uns an der Schweizer Gesellschaft schützenswert erscheint. Gleichzeitig darf dieser Schutz nicht zur Abwertung anderer Überzeugungen führen. Zumindest auf ein oder zwei Grundzutaten, die alle vertreten können, sollte man sich einigen. Dass das Christentum, verstanden als Religion auf der Basis des persönlichen Glaubens an einen personalen Gott, je länger je weniger Konsens ist, sollte mittlerweile klar sein. Es ist daher wichtig, dass die Kirchen darüber nachdenken, wie sie sich im Kontext der zunehmend säkularisierten und religiös durchmischten Gesellschaft positionieren. Umso mehr, als dass das Christentum ebenso wenig gegen fundamentalistische Haltungen gefeit ist, wie jede andere Gruppierung. Was also kann man gegen den Verlust der Deutungshoheit über die «christlichen Werte» machen, nach «innen» wie nach «aussen»?

Luc Humbel, Kirchenratspräsident der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau, versteht es als Aufgabe der Kirchen, «glaubwürdig zu agieren und sich zu Wort zu melden.» Auf sein persönliches Verständnis von christlichen Werten angesprochen entgegnet er: «Als zentralsten Wert erachte ich die Liebe zu meinen Nächsten. Ich soll und will darin vor allem einen Mitmenschen sehen. Wenn ich diesen Wert achte, dann hat das mit Menschenwürde, Menschenrechten und auch mit einem sorgsamen Umgang mit der Schöpfung (Natur) zu tun. Wenn sich Personen zu diesen christlichen Werten bekennen, dann ist das gut so. Wenn sie dies in ungerechtfertigter oder in widersprüchlicher Weise tun, dann soll man sie darauf hinweisen.» Eine Positionierung, die von einer bewussten inneren Auseinandersetzung mit christlichen Werten, aber auch von gelebter Religiosität zeugt, etwas, dass immer mehr Menschen nicht mehr wichtig ist. Vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens allerdings, können wir Pedro Lenz in dem Sinne beipflichten, wie er seinen Text auf blick.ch schliesst: «Eine Wertedebatte ohne Werte wird schwierig zu führen sein.»

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