02.05.2024

Bibliodrama – Nico Derksen hat eine besondere Art der Glaubenskommunikation entwickelt
«Wer ist Jesus für dich?»

Von Eva Meienberg

  • Nico Derksen wollte die biblischen Geschichten mit den existenziellen Erfahrungen der Menschen verknüpfen.
  • Dazu hat er zusammen mit Frans Andriessen in den 1980er Jahren das Bibliodrama erfunden.
  • Diesen Sommer startet der zehnte und vielleicht letzte Ausbildungsgang für Bibliodrama-Leitende in Wislikofen.

«Da ist die Schwelle zur Synagoge, wo zwei Pharisäer stehen», sagt Nico Derksen. Mit ausladenden Gesten unterteilt er den Raum der ehemaligen Kapelle der Propstei Wislikofen in imaginäre Zonen. «Hier stehen die Synagogenbesucherinnen und hier beobachten die Zuschauer ganz genau, was Jesus nun machen wird.» Der hochgewachsene Achtzigjährige mit dem niederländischen Akzent ist der Spielleiter dieses Bibliodramas – und der Begründer des Bibliodramas als Seelsorge. Elf Frauen und ein Mann sind an diesem sonnigen Märzmorgen ins Bildungshaus gekommen, um im eigenen Spiel die Botschaft des biblischen Textes zu erleben und zu verstehen. «Ich habe beim Bibliodrama meine tiefsten Glaubenserfahrungen gemacht », bekennt ein Teilnehmer. Eine andere Teilnehmerin warnt mich: «Das kann unter die Haut gehen.»

Im Zentrum eines jede Bibliodramas steht der biblische Text. Dieser wird als Raum verstanden, in dem sich die Spielerinnen und Spieler bewegen. Angeleitet werden die Bibliodramen durch eigens ausgebildete Leiterinnen und Leiter. | © Rita Pürro

«Was brauchst du?»

Das Spiel hat nach einiger Vorbereitung begonnen. In der Mitte des Raumes steht nun eine Teilnehmerin, die sich ihren rechten Arm hält. Sie spielt die Rolle des Mannes mit der verdorrten Hand aus dem Markus-Evangelium. Alle Blicke ruhen auf der Teilnehmerin, welche die Rolle des Jesus spielt. Wird Jesus das Gesetz missachten und den leidenden Mann heilen, obwohl Sabbat ist? Die Darstellerin des Mannes mit dem verdorrten Arm hebt ihn zögerlich und streckt ihn Jesus halbherzig entgegen. Nico Derksen beobachtet die Situation aufmerksam und geht auf die Frau zu. «Was brauchst du?», fragt er sie. «Ich sehe, dass du deine Hand nur ein bisschen ausstreckst.» Die Teilnehmerin schaut den Spielleiter skeptisch an und sagt: «Ich glaube diesem Jesus nicht so ganz. » Nico Derksen bedankt sich bei ihr für ihre Offenheit und drückt Verständnis aus für ihre Zweifel. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass die Handreichung die Bedingung sei, um mit Jesus in Beziehung zu treten. Zum Glück lässt sich auch der Jesus in Wislikofen nicht von den Zweifeln der Teilnehmerin beeindrucken und heilt die Hand des Mannes, worauf das Spiel seinen Lauf nimmt und die Darstellenden die Rechtmässigkeit der Heilung intensiv debattieren.

«Wer ist Jesus für dich?»

Am Anfang von Bibliodrama stand der Wunsch von Nico Derksen, einen neuen Weg in der Glaubenskommunikation einzuschlagen. In den ersten sieben Jahren als Priester in der Seelsorge hatte er verstanden, dass er auf die Menschen zugehen musste. «Ich wollte zurückerobern, was wir in der Seelsorge an andere Disziplinen verloren hatten.» Die Seelsorge sollte die Menschen wieder auf einer existentiellen Ebene erreichen und sie mit religiösen sinngebenden Fragen verbinden.» Mit diesem Ziel vor Augen entwickelte Nico Derksen in den 1980er Jahren gemeinsam mit Frans Andriessen das Format des Bibliodramas als Seelsorge. Die Tische, an denen er unzählige Seelsorgegespräche geführt hatte, mussten raus, um Raum zu schaffen für das Spiel mit der Grundfrage: «Wer ist Jesus für dich?»

Der sechste Ausbildungsjahrgang hat im Mai 2015 in Wislikofen Abschluss gefeiert. Die neue Ausbildung Bibliodrama und Seelsorge startet im Frühjahr 2016. | © Roger Wehrli

Im Bibliodrama gibt es neben den verschiedenen Rollen, die sich aus dem Bibeltext ergeben, immer eine Person, die das Spiel leitet. Das sei die schwierigste Rolle, welche Achtsamkeit und Respekt erfordere. Wieviel Nähe möglich sei, wieviel Distanz angebracht, müsse sie immer überprüfen. Die Spielleiterin ist es auch, die kritische Fragen stellt. Dazu brauche es fundiertes theologisches Wissen. «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die leitende Person gerade so viel anspricht, wie sie selbst tragen kann», sagt der erfahrene Bibliodrama-Ausbildner.

Allein, aber nicht einsam

Das Dogma: «Ausserhalb der Kirche kein Heil» habe er schon immer falsch gefunden, sagt Nico Derksen. Richtig müsse es heissen: «Ausserhalb von Beziehung kein Heil.» Diese Erfahrung hat Nico Derksen in seinem Leben immer wieder gemacht. Als viertes von acht Kindern ist er 1943 in Zutphen, im Osten der Niederlande, auf die Welt gekommen. Seine Mutter litt an einer psychischen Krankheit und verbrachte viel Zeit in psychiatrischen Kliniken. Mit knapp zwölf Jahren trat er in das Internat des Assumptionisten-Ordens ein. Der Orden lebt nach den Regeln des heiligen Augustinus und betreibt weltweit zahlreiche Bildungsinstitutionen. Während er sich zu Hause trotz der grossen Familie oft allein gefühlt habe, fühlte er sich im Internat geborgen, auch wenn er als Schüler verdammt hart habe arbeiten müssen, erzählt Nico Derksen.

Nach dem Abitur begann er 1962 mit 16 Mitbrüdern das Noviziat der Assumptionisten. «Wir waren Kinder der modernen Zeit und haben keine alte Theologie und Philosophie gelernt», sagt Nico Derksen. Der Geist der 1960er Jahre war aber auch dafür verantwortlich, dass der Ordensmann 1969 allein zum Priester geweiht wurde. Alle anderen Kandidaten wählten einen anderen Weg. Wieder war er allein. «Aber ich war nicht einsam, denn ich hatte gelernt, Gespräche zu suchen und Beziehungen zu pflegen», sagt der Seelsorger. Und er hatte gelernt, Orte zu verlassen, wo dies nicht möglich war. So liess er 1971 seine Ordensgemeinschaft im Studienhaus in Nijmegen hinter sich, um bei einer anderen Gruppe im gleichen Ort Anschluss zu suchen. Dort führten Gemeindemitglieder, Assumptionisten, Freunde und Freundinnen in mehreren Häusern ein gemeinschaftliches Leben. Sie hätten Themen zur Sprache gebracht, die noch heute vielerorts verschwiegen würden. Zum Beispiel die Frage, wie mit Priestern umzugehen sei, die nicht mehr zölibatär leben wollten. «Wir waren nicht bereit, diese Menschen durch die Hintertür ziehen zu lassen», sagt Nico Derksen. Die Priester haben geheiratet und deren Frauen sind der Gemeinschaft beigetreten. «Das Leben in dieser Gruppe hat meinen Glauben, mein Menschsein, meine Theologie und Seelsorge gerettet.»


10. Ausbildung in​ Bibliodrama-Leitung

Religiöse Erfahrungsräume öffnen

Die Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung und Lebensorientierung ist gross. Frauen und Männer, Junge und Ältere möchten existenziell genährt und mit Leib und Seele, Herz und Verstand angesprochen werden. Das Bibliodrama mit seinen unterschiedlichen Elementen antwortet auf diese Sehnsucht und eröffnet auf kreative Weise einen religiösen Erfahrungsraum. Wir arbeiten mit dem bibliodramatischen Modell, das in den 1970ger Jahren von Nicolaas Derksen und Frans Andriessen begründet und von der Wislikofer Schule für Bibliodrama und Seelsorge weiterentwickelt wurde. In der Weiterbildung nehmen die Teilnehmenden Kontakt auf zu ihrer eigenen Lebens- und Glaubensgeschichte. Sie lernen, wie Bibliodrama in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingesetzt werden kann. Die Weiterbildung wird von der Wislikofer Schule für Bibliodrama und Seelsorge in Kooperation mit dem TBI durchgeführt.

Bibliodrama international

Ebenso wichtig wie die Gemeinschaft war für den Theologen die lebenslange Freundschaft mit einem Ehepaar, das ebenfalls Teil der Lebensgemeinschaft wurde. Mit ihnen zog er 1979 in Warnsveld zusammen, um seine Arbeitsstelle im Bistum Utrecht anzutreten. Für das Bistum arbeitete Nico Derksen während dreissig Jahren in der Weiterbildung, begleitete Teams und arbeitete als Pastoraltheologe und Supervisor im Gemeindeaufbau. Während dieser dreissig Jahre absolvierten gegen 400 Seelsorgende die zweieinhalbjährige Bibliodrama-Ausbildung in den Niederlanden, in Deutschland, Österreich, Italien und in der Schweiz. Dorthin übersiedelte er nach dem Tod seiner Frau, die er nach seiner Pensionierung geheiratet hatte.

Die Absolventinnen zusammen mit dem Leitungsteam (Sabine Tscherner und Nico Derksen - ganz links - sowie Claudia Mennen - Mitte hinten). Die Bibliodrama-Ausbildung folgt dem Modell von Nico Derksen und Frans Andriessen aus den 1980er Jahren. In Wislikofen wurde dieses Ursprungsmodell jedoch weiterentwickelt und auf die Möglichkeiten in der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit angepasst. | zvg

Bibliodrama in Wislikofen

Seit zwölf Jahren lebt Nico Derksen in Kaiserstuhl, unweit von der Propstei Wislikofen, die Claudia Mennen zusammen mit ihm und Sabine Tscherner in den vergangenen 25 Jahren zu einem Zentrum für Bibliodrama und Seelsorge entwickelt hat. Gemeinsam haben sie die Ausbildung weiterentwickelt und noch näher an die pastorale Praxis gebracht. Bibliodramatische Kleinformen mit Erwachsenen, mit Kindern und Jugendlichen, in der Liturgie und im Naturraum. Ausserdem ist das «BibelWort in Bewegung» entstanden, um die Katechetinnen und Katecheten mit an Bord zu holen. «Diese Formate habe ich Claudia Mennen und Sabine Tscherner zu verdanken, die auf verschiedene Weise tiefer in der seelsorglichen Praxis verankert sind», sagt Nico Derksen. In diesem Sommer startet der zehnte und vermutlich letzte Ausbildungsgang, den Nico Derksen zusammen mit seinen Kolleginnen leiten wird. Damit hat die Wislikofer Schule für Bibliodrama und Seelsorge über 300 Seelsorgende, Theologinnen und Katecheten ausgebildet, welche diese Art der Glaubenskommunikation weitergeben.

Das Bibliodrama-Ausbildungsteaum: Sabine Tscherner, Claudia Mennen und Nicolaas Derksen. | Foto: zvg

Das Bild der Kirche als Zentrum

Wie die Kirchen, leeren sich auch die kirchlichen Bildungshäuser. Selbstkritisch sagt der Bibliodrama-Begründer: «Ich habe mit Bibliodrama vielen Menschen etwas Gutes tun können, aber ich habe es nicht geschafft, die nächste Generation ins Boot zu holen.» Und er fügt an: «Wir haben schon längst Abschied genommen von manchen religiösen Dogmen aber irgendwo in uns schlummert noch immer das Bild, dass nur die Kirche das Zentrum für die Begegnung mit Gott ist.» Er selbst habe schon in den 1960er Jahren einen Hinweis darauf erhalten, dass dieses Bild nicht mehr stimme. Er zeichnet mit dem Finger auf der Tischplatte einen Kreis und sagt: «Rund um die Leere». In dieser Mitte befinde sich etwas Nichtaufgebbares, etwas Unverfügbares». Wie die Naturwissenschaften, die Philosophie und die Künste hätten auch die Religionen ihren spezifischen Beitrag, um diese Mitte ins Wort, Bild und Gefühl zu bringen. Aber vorher müsse die römisch-katholische Kirche beginnen, über ihr Misslingen zu sprechen.

In all den Jahren hat sich nie ein Bischof für das Bibliodrama interessiert. Eingeladen wären sie gewesen. Hätte sich einer auf das Spiel eingelassen, hätte Nico Derksen wohl gefragt: «Ich sehe, dass es dir schwerfällt, über das Misslingen in der Kirche zu sprechen. Was brauchst du?»

Im ersten Abschnitt des Artikels stand in einer früheren Version folgender Satz: «Der hochgewachsene Achtzigjährige mit dem niederländischen Akzent ist der Spielleiter dieses Bibliodramas – und dessen Erfinder.» Wir haben diesen Satz präzisiert, weil er so verstanden werden könnte, dass er das Bibliodrama im Allgemeinen erfunden habe. Tatsächlich aber ist Nico Deerksen zusammen mit Frans Andriessen der Begründer des Bibliodramas als Seelsorge, das in der Wislikofer Schule gelehrt wird.

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