12.09.2023

Stellungnahme zur Pilotstudie: Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche Schweiz
«Wir haben die Unschuld definitiv verloren»

Von Abt Peter von Sury, Delegierter der Ordensgemeinschaften

Unter dem anhaltenden Druck von Betroffenen und ihren Organisationen und von Seiten der Medien werden seit bald 40 Jahren in immer mehr Ländern Berichte über Missbrauchsfälle veröffentlicht. Dabei kommen auch systembedingte Ursachen ans Licht. Sofern sie die ka­tholische Kirche, ihre Institutionen und Verantwortungsträger betreffen, zeigt sich je länger je mehr: Die Kirche ist konfrontiert mit einer selbstverschuldeten Katastrophe. In ihrer Mitte und durch ihre Repräsentanten wurde das Leben unzähliger Unschuldiger und Wehrloser ruiniert. Wir kommen nicht um die bittere Feststellung herum: Die Orden und die religiösen Gemein­schaften sind ein Teil des Problems. Unser Selbstbild entspricht nicht der Realität. Wir haben die Unschuld definitiv verloren, auch enorm viel Vertrauen verspielt. Das schmerzt. Verdrän­gen macht die Sache nur noch schlimmer.

Den Betroffenen Raum und Stimme geben

Wir brauchen, gemeinsam und individuell, Zeit zum Trauern und Bereuen, wir brauchen viel Zeit, um auf die Betroffenen zu hören. Ihnen und ihren Erfahrungen wollen wir Raum und Stimme geben in der Kirche; auch weil wir wissen, dass es in den Ordensgemeinschaften nicht nur Täter und Täterinnen gibt, sondern auch Opfer. Wir sind entschlossen zur Umkehr, zum Neubeginn. Dazu gehören auch scheinbar nebensächliche Dinge, z.B. die Archive ord­nen und zugänglich machen und mit den Forschenden offen kooperieren.

Vollkommenheitsideale auf Hohlstellen abklopfen

Zwar setzen unsere personellen Ressourcen den guten Absichten enge Grenzen. Trotzdem halten wir fest an den beschlossenen Präventionsmassnahmen. Wir verpflichten uns, die gel­tenden Rechtsnormen zu befolgen, um weiteres Unheil zu verhindern. Auch setzen wir uns ein für eine effiziente Zusammenarbeit der nationalen katholischen Institutionen SBK, RKZ und KOVOS. Wir bemühen uns um Weiterbildung und lernen in unsern sehr unterschiedli­chen Kontexten, mit Nähe und Distanz umzugehen. Wir sind ge­willt, unsere Vollkommen­heitsideale auf Hohlstellen abzuklopfen und zentrale Kategorien un­serer religiös geprägten Lebensform zu hinterfragen, wie Berufung und Freiheit; Gehorsam und Selbstverwirklichung; Stellenwert von Sexualität und emotionalen Bedürfnissen; Ver­bindlichkeit der Gelübde, Indi­vidualisierung, Präsenz der sozialen Medien und Ansprüche der Gemeinschaft; Kritik, Selbst­kritik und Mitverantwortung im Zusammenleben …

Neudefinition

Auch die emanzipatorische Relecture der Bi­bel und der Kirchen- und Theologiegeschichte ge­hört dazu, ebenso die kreative Weiter­entwicklung von Liturgie und Spiritualität. Wir sind über­zeugt, dass die lernwillige Auseinandersetzung mit den Humanwissenschaften unserm Le­bensentwurf neue Dynamik und Glaubwürdigkeit verleihen und zur Heilung beitragen kann. Wir halten es schliesslich für überfällig, das in der katholischen Kirche hierarchisch-patriarchal und klerikal geprägte (Miss-)Verhält­nis zwischen Mann und Frau grundlegend neu zu definieren, auch in seinen strukturellen und rechtlichen Dimensionen.